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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung des Nawrgcfiihls,

hohen Felsenmauern der Alpen gen Himmel ragen sieht, wird sich doch nicht
gleich jedes Schauers erwehren, wenn er die unzulängliche Menschenkraft mit
den ungeheuern Maßen der Natur vergleicht.

Diese Verschiedenheiten sind in jedem Zeitalter zu finden. Als Hannibal
seine erschöpften Karthager auf der letzten Paßhöhe dadurch zu ermutigen suchte,
daß er ihnen die wundervolle Aussicht auf die italienische Ebene zeigte, da
wußte er wohl, daß nicht der künstlerische Genuß der Natur ihre matten
Lebensgeister aufrichten konnte, sondern nur die Hoffnung auf reiche Beute
und Schwelgerei. Und in unsrer Zeit giebt es manche verständige und ge¬
bildete Meuscheu in der Schweiz, die es beklagen, daß ihr Leben durch die
heimatliche" Berge von so vielen Gefahren umgeben und der Verkehr von Ort
zu Ort so sehr erschwert sei. Weil eben die Freude an der Natur nicht die
bloße Wirkung der Wahrnehmung auf unser Gemüt ist, sondern erst dann ent¬
stehen kann, wenn wir selbst unser Gefühl mit dem, was wir anschauen, in
Einklang setzen, wenn wir die Erregungen der eignen Seele gleichsam hinein¬
tragen in die Natur, darum müssen zu allen Zeiten die allerverschiedensten
Äußerungen des Naturgefühls stattgefunden haben. Wenn Cäsar beim Über¬
gang über die Alpen für die Schönheit derselben keinen Sinn hatte, sondern
seine Tagebücher mit historisch-politischen Erwägungen füllte, so dürfen wir
daraus nicht schließen, daß die Nönier überhaupt kein Naturgefühl gehabt hätten.
Ein einziger Blick in jener Zeit auf die zahllosen Villen in den Albaner Bergen
oder am Seestrande würde uns eines Bessern belehren. Aber es wird eben das
Menschcngemüt nicht allein dnrch äußere Eindrücke bestimmt, und wer den Kopf
voll großer politischer Gedanken hat, der kann auch heute noch für die herr¬
lichsten Aussichten in der Natur ganz unempfindlich sein.

So führt uns denn der Verfasser an der Hand der Geschichte durch die
Poesien aller bekannten Länder und Völker hindurch bis in unsre Tage. Er
weist nach, wie die Orientalen, zumal die Inder und Perser, den cuisgebildetstcn
Natursinn hatten. In ihren Naturschilderungen, die sich mit ihren Mythe"
eng verbinden, ist überall eine Überschwänglichkeit des Gefühls, gegen welche
unsre sentimentalen Dichter des vorigen Jahrhunderts weit zurückstehen. Die
Phantasie der Orientalen geht überall ins Maßlose und Ungeheure, so auch in
den Naturschilderungen. Bei den Juden nimmt dann das Naturgefühl einen
gemäßigteren Charakter an, gezügelt durch den ernstern religiösen Sinn, der
sie bewog, in allen Naturerscheinungen die Allmacht und Größe des Schöpfers
zu verehren, wie sich das namentlich in den Psalmen ausspricht. Das wunder¬
bar begabte Volk der Hellenen aber fand, wie in allen Gebieten der Kunst, so
auch in deu Schilderungen der Natur frühzeitig das Gleichmaß ewiger Schönheit.
Das naive Naturgefühl der homerischen Gesänge ist allem, was sich davon in
der germanischen Heldensage findet, weit überlegen. Einfach, kurz und knapp
andeutend sind, wie im Nibelungenliede und in der Gudrun, so auch bei Homer


Die Entwicklung des Nawrgcfiihls,

hohen Felsenmauern der Alpen gen Himmel ragen sieht, wird sich doch nicht
gleich jedes Schauers erwehren, wenn er die unzulängliche Menschenkraft mit
den ungeheuern Maßen der Natur vergleicht.

Diese Verschiedenheiten sind in jedem Zeitalter zu finden. Als Hannibal
seine erschöpften Karthager auf der letzten Paßhöhe dadurch zu ermutigen suchte,
daß er ihnen die wundervolle Aussicht auf die italienische Ebene zeigte, da
wußte er wohl, daß nicht der künstlerische Genuß der Natur ihre matten
Lebensgeister aufrichten konnte, sondern nur die Hoffnung auf reiche Beute
und Schwelgerei. Und in unsrer Zeit giebt es manche verständige und ge¬
bildete Meuscheu in der Schweiz, die es beklagen, daß ihr Leben durch die
heimatliche« Berge von so vielen Gefahren umgeben und der Verkehr von Ort
zu Ort so sehr erschwert sei. Weil eben die Freude an der Natur nicht die
bloße Wirkung der Wahrnehmung auf unser Gemüt ist, sondern erst dann ent¬
stehen kann, wenn wir selbst unser Gefühl mit dem, was wir anschauen, in
Einklang setzen, wenn wir die Erregungen der eignen Seele gleichsam hinein¬
tragen in die Natur, darum müssen zu allen Zeiten die allerverschiedensten
Äußerungen des Naturgefühls stattgefunden haben. Wenn Cäsar beim Über¬
gang über die Alpen für die Schönheit derselben keinen Sinn hatte, sondern
seine Tagebücher mit historisch-politischen Erwägungen füllte, so dürfen wir
daraus nicht schließen, daß die Nönier überhaupt kein Naturgefühl gehabt hätten.
Ein einziger Blick in jener Zeit auf die zahllosen Villen in den Albaner Bergen
oder am Seestrande würde uns eines Bessern belehren. Aber es wird eben das
Menschcngemüt nicht allein dnrch äußere Eindrücke bestimmt, und wer den Kopf
voll großer politischer Gedanken hat, der kann auch heute noch für die herr¬
lichsten Aussichten in der Natur ganz unempfindlich sein.

So führt uns denn der Verfasser an der Hand der Geschichte durch die
Poesien aller bekannten Länder und Völker hindurch bis in unsre Tage. Er
weist nach, wie die Orientalen, zumal die Inder und Perser, den cuisgebildetstcn
Natursinn hatten. In ihren Naturschilderungen, die sich mit ihren Mythe»
eng verbinden, ist überall eine Überschwänglichkeit des Gefühls, gegen welche
unsre sentimentalen Dichter des vorigen Jahrhunderts weit zurückstehen. Die
Phantasie der Orientalen geht überall ins Maßlose und Ungeheure, so auch in
den Naturschilderungen. Bei den Juden nimmt dann das Naturgefühl einen
gemäßigteren Charakter an, gezügelt durch den ernstern religiösen Sinn, der
sie bewog, in allen Naturerscheinungen die Allmacht und Größe des Schöpfers
zu verehren, wie sich das namentlich in den Psalmen ausspricht. Das wunder¬
bar begabte Volk der Hellenen aber fand, wie in allen Gebieten der Kunst, so
auch in deu Schilderungen der Natur frühzeitig das Gleichmaß ewiger Schönheit.
Das naive Naturgefühl der homerischen Gesänge ist allem, was sich davon in
der germanischen Heldensage findet, weit überlegen. Einfach, kurz und knapp
andeutend sind, wie im Nibelungenliede und in der Gudrun, so auch bei Homer


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[0268] Die Entwicklung des Nawrgcfiihls, hohen Felsenmauern der Alpen gen Himmel ragen sieht, wird sich doch nicht gleich jedes Schauers erwehren, wenn er die unzulängliche Menschenkraft mit den ungeheuern Maßen der Natur vergleicht. Diese Verschiedenheiten sind in jedem Zeitalter zu finden. Als Hannibal seine erschöpften Karthager auf der letzten Paßhöhe dadurch zu ermutigen suchte, daß er ihnen die wundervolle Aussicht auf die italienische Ebene zeigte, da wußte er wohl, daß nicht der künstlerische Genuß der Natur ihre matten Lebensgeister aufrichten konnte, sondern nur die Hoffnung auf reiche Beute und Schwelgerei. Und in unsrer Zeit giebt es manche verständige und ge¬ bildete Meuscheu in der Schweiz, die es beklagen, daß ihr Leben durch die heimatliche« Berge von so vielen Gefahren umgeben und der Verkehr von Ort zu Ort so sehr erschwert sei. Weil eben die Freude an der Natur nicht die bloße Wirkung der Wahrnehmung auf unser Gemüt ist, sondern erst dann ent¬ stehen kann, wenn wir selbst unser Gefühl mit dem, was wir anschauen, in Einklang setzen, wenn wir die Erregungen der eignen Seele gleichsam hinein¬ tragen in die Natur, darum müssen zu allen Zeiten die allerverschiedensten Äußerungen des Naturgefühls stattgefunden haben. Wenn Cäsar beim Über¬ gang über die Alpen für die Schönheit derselben keinen Sinn hatte, sondern seine Tagebücher mit historisch-politischen Erwägungen füllte, so dürfen wir daraus nicht schließen, daß die Nönier überhaupt kein Naturgefühl gehabt hätten. Ein einziger Blick in jener Zeit auf die zahllosen Villen in den Albaner Bergen oder am Seestrande würde uns eines Bessern belehren. Aber es wird eben das Menschcngemüt nicht allein dnrch äußere Eindrücke bestimmt, und wer den Kopf voll großer politischer Gedanken hat, der kann auch heute noch für die herr¬ lichsten Aussichten in der Natur ganz unempfindlich sein. So führt uns denn der Verfasser an der Hand der Geschichte durch die Poesien aller bekannten Länder und Völker hindurch bis in unsre Tage. Er weist nach, wie die Orientalen, zumal die Inder und Perser, den cuisgebildetstcn Natursinn hatten. In ihren Naturschilderungen, die sich mit ihren Mythe» eng verbinden, ist überall eine Überschwänglichkeit des Gefühls, gegen welche unsre sentimentalen Dichter des vorigen Jahrhunderts weit zurückstehen. Die Phantasie der Orientalen geht überall ins Maßlose und Ungeheure, so auch in den Naturschilderungen. Bei den Juden nimmt dann das Naturgefühl einen gemäßigteren Charakter an, gezügelt durch den ernstern religiösen Sinn, der sie bewog, in allen Naturerscheinungen die Allmacht und Größe des Schöpfers zu verehren, wie sich das namentlich in den Psalmen ausspricht. Das wunder¬ bar begabte Volk der Hellenen aber fand, wie in allen Gebieten der Kunst, so auch in deu Schilderungen der Natur frühzeitig das Gleichmaß ewiger Schönheit. Das naive Naturgefühl der homerischen Gesänge ist allem, was sich davon in der germanischen Heldensage findet, weit überlegen. Einfach, kurz und knapp andeutend sind, wie im Nibelungenliede und in der Gudrun, so auch bei Homer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/268>, abgerufen am 28.07.2024.