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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Sie Entwicklung des Naturgefiihls.

immer sicherer und selbstbewußter dem hohlen Phrasentum aus der Hegelschen
Schule entgegenzutreten.

Der Sinn für die Natur hat in der That keinem Zeitalter und keinem
Volke jemals gefehlt. Mau muß sich mir darüber klar sein, was man unter
dem Begriffe Naturgefühl zu verstehen hat. Der moderne Naturforscher nennt
es: die Fähigkeit, Eindrücke aus der Natur aufzunehmen und auf unsre Stilen
mung wirken zu lassen. Eine solche Fähigkeit überhaupt sich entwickeln zu
lassen, ist nur einem Naturforscher möglich, dem das Wort Entwicklung zur
Erklärung für alle unverstandnen Erscheinungen dient, und der von angebornen
Fähigkeiten des menschlichen Geistes nichts weiß. Fähigkeiten müssen vorher
da sein, ehe sich irgend welche Leistungen entwickeln können. Die Leistungen
aber, aus denen wir auf die Fähigkeit der künstlerischen Naturbetrachtung
schließen, treten uns in der Poesie, in der Malerei und in der Gartenkunst
entgegen.

In der Erklärung des Begriffes Naturgefühl zeigt sich bei Biese eine viel
weiter vorgeschrittene, bedeutend reifere Auffassung. Er versteht darunter nicht
allein die Wirkung der Natur auf unser Gemüt durch das bloße Aufnehmen
äußerer Eindrücke, sondern er weiß sehr wohl, daß der Eindruck, den wir von
der Natur empfangen, vorher von uns selbst in sie hineingelegt wird. Mit
dieser Einsicht hellt sich wie mit einem Zauberschlage unendliches Dunkel auf,
das vorher über dem Gegenstände gelagert hatte, und viele Rätsel lösen
sich wie von selbst. Denn wenn unser Gemüt selbst die Eindrücke bestimmt,
die wir empfangen, so ist es klar, daß diese ganz verschieden auf uns wirken
müssen, je nachdem unser Gemüt gestimmt ist und unsre geistigen Anlagen ver¬
schieden ausgebildet sind. Ganzen Geschlechtern und Völkern in alter Zeit den
Natursinn abzusprechen, würde nun so viel heißen, als ihnen überhaupt ver-
schiedne Stimmungen des Gemütes abzusprechen, als hätte es im Altertum
keine Freude und keine Trauer, kein Glück und kein Unglück, überhaupt kein
wirkliches Leben gegeben. Dagegen ist es sofort leicht ersichtlich, daß zu ver-
schiednen Zeiten das Gefühl für die Natur sich verschieden äußern mußte je
uach der Begabung, dem Schicksal und der geistigen Entwicklung der Menschen
und Völker. Wenn heutzutage ein großer Mathematiker uns von dem hohen
und eigentümlichen Genusse berichtet, den ihm das mathematische Spiel der
Wellenlinien bereitet, wenn er von der höchsten Klippe Rügens weit ins Meer
hinausschaut, neben ihm aber vielleicht eine poetisch gestimmte Malerin gar
nicht auf diese Linien achtet, sondern durch die Farben des Meeres und der
Wellen sowie der Luft und der Wolken darüber sich begeistert fühlt, wem sollen
wir da das höher entwickelte Naturgefühl zuschreiben? Das Naturgefühl muß
notwendig selbst in derselben Zeit in verschiednen Menschen ganz verschieden
sein, und offenbar ist nichts so thöricht, als von einem einzelnen Beispiele, das
wir zufällig eintreffen, allgemeine Schlüsse auf ein ganzes Volk oder Zeitalter


Sie Entwicklung des Naturgefiihls.

immer sicherer und selbstbewußter dem hohlen Phrasentum aus der Hegelschen
Schule entgegenzutreten.

Der Sinn für die Natur hat in der That keinem Zeitalter und keinem
Volke jemals gefehlt. Mau muß sich mir darüber klar sein, was man unter
dem Begriffe Naturgefühl zu verstehen hat. Der moderne Naturforscher nennt
es: die Fähigkeit, Eindrücke aus der Natur aufzunehmen und auf unsre Stilen
mung wirken zu lassen. Eine solche Fähigkeit überhaupt sich entwickeln zu
lassen, ist nur einem Naturforscher möglich, dem das Wort Entwicklung zur
Erklärung für alle unverstandnen Erscheinungen dient, und der von angebornen
Fähigkeiten des menschlichen Geistes nichts weiß. Fähigkeiten müssen vorher
da sein, ehe sich irgend welche Leistungen entwickeln können. Die Leistungen
aber, aus denen wir auf die Fähigkeit der künstlerischen Naturbetrachtung
schließen, treten uns in der Poesie, in der Malerei und in der Gartenkunst
entgegen.

In der Erklärung des Begriffes Naturgefühl zeigt sich bei Biese eine viel
weiter vorgeschrittene, bedeutend reifere Auffassung. Er versteht darunter nicht
allein die Wirkung der Natur auf unser Gemüt durch das bloße Aufnehmen
äußerer Eindrücke, sondern er weiß sehr wohl, daß der Eindruck, den wir von
der Natur empfangen, vorher von uns selbst in sie hineingelegt wird. Mit
dieser Einsicht hellt sich wie mit einem Zauberschlage unendliches Dunkel auf,
das vorher über dem Gegenstände gelagert hatte, und viele Rätsel lösen
sich wie von selbst. Denn wenn unser Gemüt selbst die Eindrücke bestimmt,
die wir empfangen, so ist es klar, daß diese ganz verschieden auf uns wirken
müssen, je nachdem unser Gemüt gestimmt ist und unsre geistigen Anlagen ver¬
schieden ausgebildet sind. Ganzen Geschlechtern und Völkern in alter Zeit den
Natursinn abzusprechen, würde nun so viel heißen, als ihnen überhaupt ver-
schiedne Stimmungen des Gemütes abzusprechen, als hätte es im Altertum
keine Freude und keine Trauer, kein Glück und kein Unglück, überhaupt kein
wirkliches Leben gegeben. Dagegen ist es sofort leicht ersichtlich, daß zu ver-
schiednen Zeiten das Gefühl für die Natur sich verschieden äußern mußte je
uach der Begabung, dem Schicksal und der geistigen Entwicklung der Menschen
und Völker. Wenn heutzutage ein großer Mathematiker uns von dem hohen
und eigentümlichen Genusse berichtet, den ihm das mathematische Spiel der
Wellenlinien bereitet, wenn er von der höchsten Klippe Rügens weit ins Meer
hinausschaut, neben ihm aber vielleicht eine poetisch gestimmte Malerin gar
nicht auf diese Linien achtet, sondern durch die Farben des Meeres und der
Wellen sowie der Luft und der Wolken darüber sich begeistert fühlt, wem sollen
wir da das höher entwickelte Naturgefühl zuschreiben? Das Naturgefühl muß
notwendig selbst in derselben Zeit in verschiednen Menschen ganz verschieden
sein, und offenbar ist nichts so thöricht, als von einem einzelnen Beispiele, das
wir zufällig eintreffen, allgemeine Schlüsse auf ein ganzes Volk oder Zeitalter


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[0266] Sie Entwicklung des Naturgefiihls. immer sicherer und selbstbewußter dem hohlen Phrasentum aus der Hegelschen Schule entgegenzutreten. Der Sinn für die Natur hat in der That keinem Zeitalter und keinem Volke jemals gefehlt. Mau muß sich mir darüber klar sein, was man unter dem Begriffe Naturgefühl zu verstehen hat. Der moderne Naturforscher nennt es: die Fähigkeit, Eindrücke aus der Natur aufzunehmen und auf unsre Stilen mung wirken zu lassen. Eine solche Fähigkeit überhaupt sich entwickeln zu lassen, ist nur einem Naturforscher möglich, dem das Wort Entwicklung zur Erklärung für alle unverstandnen Erscheinungen dient, und der von angebornen Fähigkeiten des menschlichen Geistes nichts weiß. Fähigkeiten müssen vorher da sein, ehe sich irgend welche Leistungen entwickeln können. Die Leistungen aber, aus denen wir auf die Fähigkeit der künstlerischen Naturbetrachtung schließen, treten uns in der Poesie, in der Malerei und in der Gartenkunst entgegen. In der Erklärung des Begriffes Naturgefühl zeigt sich bei Biese eine viel weiter vorgeschrittene, bedeutend reifere Auffassung. Er versteht darunter nicht allein die Wirkung der Natur auf unser Gemüt durch das bloße Aufnehmen äußerer Eindrücke, sondern er weiß sehr wohl, daß der Eindruck, den wir von der Natur empfangen, vorher von uns selbst in sie hineingelegt wird. Mit dieser Einsicht hellt sich wie mit einem Zauberschlage unendliches Dunkel auf, das vorher über dem Gegenstände gelagert hatte, und viele Rätsel lösen sich wie von selbst. Denn wenn unser Gemüt selbst die Eindrücke bestimmt, die wir empfangen, so ist es klar, daß diese ganz verschieden auf uns wirken müssen, je nachdem unser Gemüt gestimmt ist und unsre geistigen Anlagen ver¬ schieden ausgebildet sind. Ganzen Geschlechtern und Völkern in alter Zeit den Natursinn abzusprechen, würde nun so viel heißen, als ihnen überhaupt ver- schiedne Stimmungen des Gemütes abzusprechen, als hätte es im Altertum keine Freude und keine Trauer, kein Glück und kein Unglück, überhaupt kein wirkliches Leben gegeben. Dagegen ist es sofort leicht ersichtlich, daß zu ver- schiednen Zeiten das Gefühl für die Natur sich verschieden äußern mußte je uach der Begabung, dem Schicksal und der geistigen Entwicklung der Menschen und Völker. Wenn heutzutage ein großer Mathematiker uns von dem hohen und eigentümlichen Genusse berichtet, den ihm das mathematische Spiel der Wellenlinien bereitet, wenn er von der höchsten Klippe Rügens weit ins Meer hinausschaut, neben ihm aber vielleicht eine poetisch gestimmte Malerin gar nicht auf diese Linien achtet, sondern durch die Farben des Meeres und der Wellen sowie der Luft und der Wolken darüber sich begeistert fühlt, wem sollen wir da das höher entwickelte Naturgefühl zuschreiben? Das Naturgefühl muß notwendig selbst in derselben Zeit in verschiednen Menschen ganz verschieden sein, und offenbar ist nichts so thöricht, als von einem einzelnen Beispiele, das wir zufällig eintreffen, allgemeine Schlüsse auf ein ganzes Volk oder Zeitalter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/266>, abgerufen am 27.07.2024.