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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung des Natnrgcfiihls.

Jahre, in dem er jene Abhandlung verfaßte, Wilhelm von Humboldt um An¬
leitung zur Erlernung der griechischen Sprache! Wie manche poetische Lizenz
in seinen Dramen müssen wir ihm ans Rücksicht ans den idealen Schwung
seiner dichterischen Gestaltungskraft nachsehen! Ohne Zweifel sind wir heut¬
zutage viel besser imstande, den wahren Geist des Altertums zu verstehe".
Namentlich die Vorstellung, daß die alten Griechen stets so heiter und froh in
Natur und Welt hineingesehen hätten, wie Kinder in die Kinderstube, hat sich
längst verflüchtigt.

Aber nicht allein die mangelhafte Kenntnis des Altertums ist an der schiefen
Beurteilung des Naturgefühls bei Griechen und Römern im Altertum und Mittel¬
alter schuld, es ist auch für den Naturforscher bestechend, den Gedanken der
Entwicklung, dem besonders durch Hegel eine ganz unberechtigte Ausdehnung
gegeben wurde, auch auf die Äußerungen des Naturgefühls durch alle Jahr¬
hunderte hin anzuwenden. Wenn sich wirklich die Fähigkeit des Menschen, die
Natur auf sein Gefühl wirken zu lassen, erst seit Rousseau bei uns entwickelt
hat, dann ist wieder ein Glied der Kette in jener großen Theorie ausgeführt,
welche die Menschheit sich beständig vom Unvollkommenen zum Vollkommenen
weiter entwickeln läßt. Aber auch diese Entwicklungstheorie hat bereits so viel
handgreiflichen Irrtum verschuldet, daß man gut thut, etwas kritischer zu Werke
Z" gehen. Auch Gervinus z. B. sagt irrigerweise in seiner Geschichte der deutschen
Dichtung, daß die Freude an der Natur zwar den Griechen und Römern
vollständig gefehlt habe, aber dem germanischen Menschenschlage sei sie von den
frühesten Zeiten her eigen gewesen.

Sicherlich war es eine hoch interessante Aufgabe, der sich neuerdings
Alfred Biese unterzogen hat, an der Hand eines möglichst umfassenden
litterarischen Materials zu prüfen, was denn eigentlich an der Entwicklungs¬
theorie des Naturgefühls wahr sei/') Der gelehrte jugendliche Verfasser scheint
diese Aufgabe in der That in seinem neuesten Buche würdig gelöst zu haben.
Freilich macht die außerordentlich reiche Fülle des bearbeiteten Stoffes es
keineswegs leicht, darüber zu urteilen, denn uicht jedem stehen so umfangreiche
Kenntnisse der Litteratur zu Gebote. Im höchsten Grade interessant ist es
aber schon, zu sehen, wie der Verfasser anfänglich offenbar der allgemeingiltigen
Entwicklungstheorie zu dienen gedachte -- schon der Titel des Buches deutet
darauf hin --, wie er aber durch die eigne Vertiefung in den reichen Stoff
und seine gesunde Kritik bald zu dem Ergebnisse kam, daß jedes Zeitalter seine
eigne Entwicklung aufweist, und die beständig durch alle Zeiten fortschreitende
Entwicklung nur in unsrer Phantasie lebt. Es ist erfreulich zu sehen, wie der
Verfasser an der Hand sorgfältigster Einzelstudien dahin geführt worden ist,



*) Die Entwicklung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit,
^v" Alfred Biese. Leipzig, Veit n. Co., 1888.
Grenzlwtcn II, 1888. 38
Die Entwicklung des Natnrgcfiihls.

Jahre, in dem er jene Abhandlung verfaßte, Wilhelm von Humboldt um An¬
leitung zur Erlernung der griechischen Sprache! Wie manche poetische Lizenz
in seinen Dramen müssen wir ihm ans Rücksicht ans den idealen Schwung
seiner dichterischen Gestaltungskraft nachsehen! Ohne Zweifel sind wir heut¬
zutage viel besser imstande, den wahren Geist des Altertums zu verstehe».
Namentlich die Vorstellung, daß die alten Griechen stets so heiter und froh in
Natur und Welt hineingesehen hätten, wie Kinder in die Kinderstube, hat sich
längst verflüchtigt.

Aber nicht allein die mangelhafte Kenntnis des Altertums ist an der schiefen
Beurteilung des Naturgefühls bei Griechen und Römern im Altertum und Mittel¬
alter schuld, es ist auch für den Naturforscher bestechend, den Gedanken der
Entwicklung, dem besonders durch Hegel eine ganz unberechtigte Ausdehnung
gegeben wurde, auch auf die Äußerungen des Naturgefühls durch alle Jahr¬
hunderte hin anzuwenden. Wenn sich wirklich die Fähigkeit des Menschen, die
Natur auf sein Gefühl wirken zu lassen, erst seit Rousseau bei uns entwickelt
hat, dann ist wieder ein Glied der Kette in jener großen Theorie ausgeführt,
welche die Menschheit sich beständig vom Unvollkommenen zum Vollkommenen
weiter entwickeln läßt. Aber auch diese Entwicklungstheorie hat bereits so viel
handgreiflichen Irrtum verschuldet, daß man gut thut, etwas kritischer zu Werke
Z" gehen. Auch Gervinus z. B. sagt irrigerweise in seiner Geschichte der deutschen
Dichtung, daß die Freude an der Natur zwar den Griechen und Römern
vollständig gefehlt habe, aber dem germanischen Menschenschlage sei sie von den
frühesten Zeiten her eigen gewesen.

Sicherlich war es eine hoch interessante Aufgabe, der sich neuerdings
Alfred Biese unterzogen hat, an der Hand eines möglichst umfassenden
litterarischen Materials zu prüfen, was denn eigentlich an der Entwicklungs¬
theorie des Naturgefühls wahr sei/') Der gelehrte jugendliche Verfasser scheint
diese Aufgabe in der That in seinem neuesten Buche würdig gelöst zu haben.
Freilich macht die außerordentlich reiche Fülle des bearbeiteten Stoffes es
keineswegs leicht, darüber zu urteilen, denn uicht jedem stehen so umfangreiche
Kenntnisse der Litteratur zu Gebote. Im höchsten Grade interessant ist es
aber schon, zu sehen, wie der Verfasser anfänglich offenbar der allgemeingiltigen
Entwicklungstheorie zu dienen gedachte — schon der Titel des Buches deutet
darauf hin —, wie er aber durch die eigne Vertiefung in den reichen Stoff
und seine gesunde Kritik bald zu dem Ergebnisse kam, daß jedes Zeitalter seine
eigne Entwicklung aufweist, und die beständig durch alle Zeiten fortschreitende
Entwicklung nur in unsrer Phantasie lebt. Es ist erfreulich zu sehen, wie der
Verfasser an der Hand sorgfältigster Einzelstudien dahin geführt worden ist,



*) Die Entwicklung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit,
^v" Alfred Biese. Leipzig, Veit n. Co., 1888.
Grenzlwtcn II, 1888. 38
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[0265] Die Entwicklung des Natnrgcfiihls. Jahre, in dem er jene Abhandlung verfaßte, Wilhelm von Humboldt um An¬ leitung zur Erlernung der griechischen Sprache! Wie manche poetische Lizenz in seinen Dramen müssen wir ihm ans Rücksicht ans den idealen Schwung seiner dichterischen Gestaltungskraft nachsehen! Ohne Zweifel sind wir heut¬ zutage viel besser imstande, den wahren Geist des Altertums zu verstehe». Namentlich die Vorstellung, daß die alten Griechen stets so heiter und froh in Natur und Welt hineingesehen hätten, wie Kinder in die Kinderstube, hat sich längst verflüchtigt. Aber nicht allein die mangelhafte Kenntnis des Altertums ist an der schiefen Beurteilung des Naturgefühls bei Griechen und Römern im Altertum und Mittel¬ alter schuld, es ist auch für den Naturforscher bestechend, den Gedanken der Entwicklung, dem besonders durch Hegel eine ganz unberechtigte Ausdehnung gegeben wurde, auch auf die Äußerungen des Naturgefühls durch alle Jahr¬ hunderte hin anzuwenden. Wenn sich wirklich die Fähigkeit des Menschen, die Natur auf sein Gefühl wirken zu lassen, erst seit Rousseau bei uns entwickelt hat, dann ist wieder ein Glied der Kette in jener großen Theorie ausgeführt, welche die Menschheit sich beständig vom Unvollkommenen zum Vollkommenen weiter entwickeln läßt. Aber auch diese Entwicklungstheorie hat bereits so viel handgreiflichen Irrtum verschuldet, daß man gut thut, etwas kritischer zu Werke Z" gehen. Auch Gervinus z. B. sagt irrigerweise in seiner Geschichte der deutschen Dichtung, daß die Freude an der Natur zwar den Griechen und Römern vollständig gefehlt habe, aber dem germanischen Menschenschlage sei sie von den frühesten Zeiten her eigen gewesen. Sicherlich war es eine hoch interessante Aufgabe, der sich neuerdings Alfred Biese unterzogen hat, an der Hand eines möglichst umfassenden litterarischen Materials zu prüfen, was denn eigentlich an der Entwicklungs¬ theorie des Naturgefühls wahr sei/') Der gelehrte jugendliche Verfasser scheint diese Aufgabe in der That in seinem neuesten Buche würdig gelöst zu haben. Freilich macht die außerordentlich reiche Fülle des bearbeiteten Stoffes es keineswegs leicht, darüber zu urteilen, denn uicht jedem stehen so umfangreiche Kenntnisse der Litteratur zu Gebote. Im höchsten Grade interessant ist es aber schon, zu sehen, wie der Verfasser anfänglich offenbar der allgemeingiltigen Entwicklungstheorie zu dienen gedachte — schon der Titel des Buches deutet darauf hin —, wie er aber durch die eigne Vertiefung in den reichen Stoff und seine gesunde Kritik bald zu dem Ergebnisse kam, daß jedes Zeitalter seine eigne Entwicklung aufweist, und die beständig durch alle Zeiten fortschreitende Entwicklung nur in unsrer Phantasie lebt. Es ist erfreulich zu sehen, wie der Verfasser an der Hand sorgfältigster Einzelstudien dahin geführt worden ist, *) Die Entwicklung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit, ^v" Alfred Biese. Leipzig, Veit n. Co., 1888. Grenzlwtcn II, 1888. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/265>, abgerufen am 27.07.2024.