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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Verfassungsrevision in Frankreich.

fortiger Revision der Verfassung nach Kräften zu widersetzen. Ist diese Umkehr
an sich zu loben, so ist es doch mindestens seltsam, Saul wieder einmal unter
den Propheten zu finden, d. h. dieses verständige und maßvolle Glaubens¬
bekenntnis den Lippen eines Politikers entströmen zu sehen, der erst vor einigen
Wochen als radikalster Premierminister, deu die Republik seit ihrer Geburt
gehabt, ins Amt gehoben wurde. In der That, das Gefühl, verantwortlich
geworden zu sein, und der Wunsch, sich bei der lange ersehnten und mühsam
erworbenen Gewalt mit Zubehör zu behaupten, bringen geradezu uoch Wunder
zu Wege. Exzellenz Floquct bemüht sich jetzt um die Unterstützung der Ge¬
mäßigten und erbietet sich in dieser Absicht, sich mit ihnen jeder unverzüglichen
und möglicherweise sehr weitgehenden Abänderung der Verfassung zu widersetzen.
Es ist möglich, daß es ihm mit dem Beistande Clemenceaus, der für sich allein
schon als respektables parlamentarisches Hilfskorps zu gelten hat, und mit
einigen geschickten Manövern gelingt, die republikanischen Mittelgruppen der
Kammer um sich zu sammeln, welche vereinigt eine ansehnliche Majorität bilden
und die Allianz der äußersten Linken und der beiden monarchischen Fraktionen,
die hinter Boulangers Verlangen nach Revision marschirt, leicht aus dem Felde
schlagen würden. Man darf hinsichtlich der Zusammentrommlung dieser Mehr¬
heit bei vielen Deputirten auch an sehr prosaische Beweggründe denken, daran
z. B., daß ihr Mandat ihnen Vorteile ideeller und materieller Art bedeutet,
daß es sie hebt und ehrt, ihnen Gelegenheit giebt, den Gönner und Beschützer
von Mitbürgern zu spielen, die Bestrebungen von Vettern, Schwiegersöhnen,
andern Verwandten, solchen, die es werden wollen, und guten Freunden nach
einem Amte zu fördern, ja selbst durch Empfehlung von Zuwendungen an
Unternehmer oder Gemeinden für sich ein einträgliches Geschäft zu machen,
daß ihnen also daran liegen muß, sich dieses Mandat bis zu seinem Ablaufe
zu erhalten, und daß sie, wenn Boulangers Antrag durchgeht und die Kammer
aufgelöst wird, keineswegs sicher sind, in die von ihm ins Auge gefaßte National¬
versammlung gewählt zu werden. Trotz alledem ist es indes noch ungewiß, ob
Floquet eine Mehrheit gegen Boulanger und seine Gefolgschaft, die in diesen
Tagen, soweit sie aus Orlcauisten besteht, durch eine Ansprache des Grafen von
Paris in ihrer Gegnerschaft gegen die Verfassung bestärkt wurde, zu stände bringen
wird. Er wird dies nur dann vermögen, wenn die gemäßigten Republikaner es
über sich gewinnen, für den Augenblick der Not seine Vergangenheit zu vergessen
und es ihm und seiner Partei zu verzeihen, daß sie die ihrige aus dem Kabinet
verdrängt haben. Es wird also hier einer Überwindung des Parteigeistes mit
seinen Interessen und Leidenschaften durch die Liebe zur Republik bedürfen, die
durch Boulangers Politik schwerer Gefahr ausgesetzt ist. Es wird sich nun
zeigen, ob diese Liebe bei den Opportunisten echt und stark genug ist, um ein
Opfer zu bringen. Bis jetzt herrschte unter den Republikanern große Zwietracht
und bittre Feindschaft, die sie sich gestatten zu dürfen glaubten, weil sie meinten,


Die Verfassungsrevision in Frankreich.

fortiger Revision der Verfassung nach Kräften zu widersetzen. Ist diese Umkehr
an sich zu loben, so ist es doch mindestens seltsam, Saul wieder einmal unter
den Propheten zu finden, d. h. dieses verständige und maßvolle Glaubens¬
bekenntnis den Lippen eines Politikers entströmen zu sehen, der erst vor einigen
Wochen als radikalster Premierminister, deu die Republik seit ihrer Geburt
gehabt, ins Amt gehoben wurde. In der That, das Gefühl, verantwortlich
geworden zu sein, und der Wunsch, sich bei der lange ersehnten und mühsam
erworbenen Gewalt mit Zubehör zu behaupten, bringen geradezu uoch Wunder
zu Wege. Exzellenz Floquct bemüht sich jetzt um die Unterstützung der Ge¬
mäßigten und erbietet sich in dieser Absicht, sich mit ihnen jeder unverzüglichen
und möglicherweise sehr weitgehenden Abänderung der Verfassung zu widersetzen.
Es ist möglich, daß es ihm mit dem Beistande Clemenceaus, der für sich allein
schon als respektables parlamentarisches Hilfskorps zu gelten hat, und mit
einigen geschickten Manövern gelingt, die republikanischen Mittelgruppen der
Kammer um sich zu sammeln, welche vereinigt eine ansehnliche Majorität bilden
und die Allianz der äußersten Linken und der beiden monarchischen Fraktionen,
die hinter Boulangers Verlangen nach Revision marschirt, leicht aus dem Felde
schlagen würden. Man darf hinsichtlich der Zusammentrommlung dieser Mehr¬
heit bei vielen Deputirten auch an sehr prosaische Beweggründe denken, daran
z. B., daß ihr Mandat ihnen Vorteile ideeller und materieller Art bedeutet,
daß es sie hebt und ehrt, ihnen Gelegenheit giebt, den Gönner und Beschützer
von Mitbürgern zu spielen, die Bestrebungen von Vettern, Schwiegersöhnen,
andern Verwandten, solchen, die es werden wollen, und guten Freunden nach
einem Amte zu fördern, ja selbst durch Empfehlung von Zuwendungen an
Unternehmer oder Gemeinden für sich ein einträgliches Geschäft zu machen,
daß ihnen also daran liegen muß, sich dieses Mandat bis zu seinem Ablaufe
zu erhalten, und daß sie, wenn Boulangers Antrag durchgeht und die Kammer
aufgelöst wird, keineswegs sicher sind, in die von ihm ins Auge gefaßte National¬
versammlung gewählt zu werden. Trotz alledem ist es indes noch ungewiß, ob
Floquet eine Mehrheit gegen Boulanger und seine Gefolgschaft, die in diesen
Tagen, soweit sie aus Orlcauisten besteht, durch eine Ansprache des Grafen von
Paris in ihrer Gegnerschaft gegen die Verfassung bestärkt wurde, zu stände bringen
wird. Er wird dies nur dann vermögen, wenn die gemäßigten Republikaner es
über sich gewinnen, für den Augenblick der Not seine Vergangenheit zu vergessen
und es ihm und seiner Partei zu verzeihen, daß sie die ihrige aus dem Kabinet
verdrängt haben. Es wird also hier einer Überwindung des Parteigeistes mit
seinen Interessen und Leidenschaften durch die Liebe zur Republik bedürfen, die
durch Boulangers Politik schwerer Gefahr ausgesetzt ist. Es wird sich nun
zeigen, ob diese Liebe bei den Opportunisten echt und stark genug ist, um ein
Opfer zu bringen. Bis jetzt herrschte unter den Republikanern große Zwietracht
und bittre Feindschaft, die sie sich gestatten zu dürfen glaubten, weil sie meinten,


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[0261] Die Verfassungsrevision in Frankreich. fortiger Revision der Verfassung nach Kräften zu widersetzen. Ist diese Umkehr an sich zu loben, so ist es doch mindestens seltsam, Saul wieder einmal unter den Propheten zu finden, d. h. dieses verständige und maßvolle Glaubens¬ bekenntnis den Lippen eines Politikers entströmen zu sehen, der erst vor einigen Wochen als radikalster Premierminister, deu die Republik seit ihrer Geburt gehabt, ins Amt gehoben wurde. In der That, das Gefühl, verantwortlich geworden zu sein, und der Wunsch, sich bei der lange ersehnten und mühsam erworbenen Gewalt mit Zubehör zu behaupten, bringen geradezu uoch Wunder zu Wege. Exzellenz Floquct bemüht sich jetzt um die Unterstützung der Ge¬ mäßigten und erbietet sich in dieser Absicht, sich mit ihnen jeder unverzüglichen und möglicherweise sehr weitgehenden Abänderung der Verfassung zu widersetzen. Es ist möglich, daß es ihm mit dem Beistande Clemenceaus, der für sich allein schon als respektables parlamentarisches Hilfskorps zu gelten hat, und mit einigen geschickten Manövern gelingt, die republikanischen Mittelgruppen der Kammer um sich zu sammeln, welche vereinigt eine ansehnliche Majorität bilden und die Allianz der äußersten Linken und der beiden monarchischen Fraktionen, die hinter Boulangers Verlangen nach Revision marschirt, leicht aus dem Felde schlagen würden. Man darf hinsichtlich der Zusammentrommlung dieser Mehr¬ heit bei vielen Deputirten auch an sehr prosaische Beweggründe denken, daran z. B., daß ihr Mandat ihnen Vorteile ideeller und materieller Art bedeutet, daß es sie hebt und ehrt, ihnen Gelegenheit giebt, den Gönner und Beschützer von Mitbürgern zu spielen, die Bestrebungen von Vettern, Schwiegersöhnen, andern Verwandten, solchen, die es werden wollen, und guten Freunden nach einem Amte zu fördern, ja selbst durch Empfehlung von Zuwendungen an Unternehmer oder Gemeinden für sich ein einträgliches Geschäft zu machen, daß ihnen also daran liegen muß, sich dieses Mandat bis zu seinem Ablaufe zu erhalten, und daß sie, wenn Boulangers Antrag durchgeht und die Kammer aufgelöst wird, keineswegs sicher sind, in die von ihm ins Auge gefaßte National¬ versammlung gewählt zu werden. Trotz alledem ist es indes noch ungewiß, ob Floquet eine Mehrheit gegen Boulanger und seine Gefolgschaft, die in diesen Tagen, soweit sie aus Orlcauisten besteht, durch eine Ansprache des Grafen von Paris in ihrer Gegnerschaft gegen die Verfassung bestärkt wurde, zu stände bringen wird. Er wird dies nur dann vermögen, wenn die gemäßigten Republikaner es über sich gewinnen, für den Augenblick der Not seine Vergangenheit zu vergessen und es ihm und seiner Partei zu verzeihen, daß sie die ihrige aus dem Kabinet verdrängt haben. Es wird also hier einer Überwindung des Parteigeistes mit seinen Interessen und Leidenschaften durch die Liebe zur Republik bedürfen, die durch Boulangers Politik schwerer Gefahr ausgesetzt ist. Es wird sich nun zeigen, ob diese Liebe bei den Opportunisten echt und stark genug ist, um ein Opfer zu bringen. Bis jetzt herrschte unter den Republikanern große Zwietracht und bittre Feindschaft, die sie sich gestatten zu dürfen glaubten, weil sie meinten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/261>, abgerufen am 01.09.2024.