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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Verfassungsrevision in Frankreich.

drussc -- denn man hat ihm eine Aufgabe vorweggenommen, die er und seine
Partei selbst teilweise zu verwirklichen gedachten, und er muß jetzt mit den ihm
verhaßten gemäßigten Republikanern in die Bresche treten -- in der Rolle des
Verteidigers, der Radikale spielt notgedrungen den Konservativen. Man ist
beinahe befugt, zu sagen, die anfängliche Lächerlichkeit Boulangers sei auf ihn
übergegangen. Die Rede, die er am Sonnabend der dritten Aprilwochc über
den Gegenstand vor dem Senate vom Stapel ließ, ist eine der Wunderlichkeiten
der jetzigen Lage. Man wolle sich erinnern, daß das Kabinet Tirard vom
Ruder vertrieben wurde, weil es sich einem Antrage des Boulangcristen Lagucrre
widersetzte, der, von Royalisten, Bonapartisten und einer kleinen Anzahl radikaler
Abgeordneten unterstützt, Abänderung der Verfassung verlangte. Floquet trat
an seiue Stelle, und nach parlamentarischem Brauch mußte er das Gegenteil
von dem versuchen, was sein Vorgänger im Amte gethan hatte. Er scheint
jedoch im Portefeuille desselben die behutsame und konservative Denkart vor¬
gefunden und sich angeeignet zu haben, die sich an Ministerportefeuilles heftet
und einen untrennbaren Bestandteil solcher Utensilien zu bilden pflegt. Er
war, als er sich noch der Unverantwortlichkeit erfreute, eins der großen Lichter
der Radikalen, welche im Senate das Haupthindernis für die Verwirklichung
der Schönheiten ihres Programms erblicken; aber um die gemäßigten Repu¬
blikaner zu beschwichtigen und für sich zu gewinnen, gegen die er noch vor
kurzer Zeit kämpfte, erklärte er an jenem Sonnabende, daß die Zustimmung
des Senats zu jeder Veränderung erforderlich sei, und daß das Ministerium ihm
jede notwendige Erklärung zu gewähren haben würde. Das ist aber durchaus
nicht die Sprache, die man vou einem Radikalen erwarten konnte, der zu einer
Körperschaft redete, welcher er einst das Schicksal baldiger Abschaffung zu¬
gedacht hatte. Der Wind hatte also die Wetterfahne gedreht, sie wies jetzt
in konservativer Richtung. Ein noch auffälligerer Ausbruch neu gewonnener
konservativer Ueberzeugung war seine Erklärung, wenn es für notwendig
befunden werden sollte -- man bemerke, daß die Möglichkeit nur hypothetisch
ausgedrückt wird --, Aenderungen in der Beziehung von Kirche und Staat
vorzunehmen, so werde es nicht geschehen, um einen Angriff auf den Frieden
in Religionssachen und auf die Gewissensfreiheit zu machen. Selbst Guizot,
der sehr konservative und sehr fromme Minister der Julimonarchie, Hütte sich
nicht besser ausdrücken können als hier der radikale und im Herzen ungläubige
und kirchenfeindliche Premier neuesten Datums. Die ganze demokratische Welt
will ferner, daß die großen Städte die Befugnis erhalten sollen, die Kontrole
über ihre Polizei selbst in die Hand zu nehmen, und im Gegensatze dazu
weigert sich der radikale Demokrat, der heute an der Spitze der französischen
Verwaltung steht, Gesetz und Ordnung in Paris dem Munizipalrate zur
Wahrnehmung innerhalb der Stadt anzuvertrauen. Nach alledem scheint der
radikale Premier auch entschlossen zu sein, sich wenigstens dem Drängen nach so-


Die Verfassungsrevision in Frankreich.

drussc — denn man hat ihm eine Aufgabe vorweggenommen, die er und seine
Partei selbst teilweise zu verwirklichen gedachten, und er muß jetzt mit den ihm
verhaßten gemäßigten Republikanern in die Bresche treten — in der Rolle des
Verteidigers, der Radikale spielt notgedrungen den Konservativen. Man ist
beinahe befugt, zu sagen, die anfängliche Lächerlichkeit Boulangers sei auf ihn
übergegangen. Die Rede, die er am Sonnabend der dritten Aprilwochc über
den Gegenstand vor dem Senate vom Stapel ließ, ist eine der Wunderlichkeiten
der jetzigen Lage. Man wolle sich erinnern, daß das Kabinet Tirard vom
Ruder vertrieben wurde, weil es sich einem Antrage des Boulangcristen Lagucrre
widersetzte, der, von Royalisten, Bonapartisten und einer kleinen Anzahl radikaler
Abgeordneten unterstützt, Abänderung der Verfassung verlangte. Floquet trat
an seiue Stelle, und nach parlamentarischem Brauch mußte er das Gegenteil
von dem versuchen, was sein Vorgänger im Amte gethan hatte. Er scheint
jedoch im Portefeuille desselben die behutsame und konservative Denkart vor¬
gefunden und sich angeeignet zu haben, die sich an Ministerportefeuilles heftet
und einen untrennbaren Bestandteil solcher Utensilien zu bilden pflegt. Er
war, als er sich noch der Unverantwortlichkeit erfreute, eins der großen Lichter
der Radikalen, welche im Senate das Haupthindernis für die Verwirklichung
der Schönheiten ihres Programms erblicken; aber um die gemäßigten Repu¬
blikaner zu beschwichtigen und für sich zu gewinnen, gegen die er noch vor
kurzer Zeit kämpfte, erklärte er an jenem Sonnabende, daß die Zustimmung
des Senats zu jeder Veränderung erforderlich sei, und daß das Ministerium ihm
jede notwendige Erklärung zu gewähren haben würde. Das ist aber durchaus
nicht die Sprache, die man vou einem Radikalen erwarten konnte, der zu einer
Körperschaft redete, welcher er einst das Schicksal baldiger Abschaffung zu¬
gedacht hatte. Der Wind hatte also die Wetterfahne gedreht, sie wies jetzt
in konservativer Richtung. Ein noch auffälligerer Ausbruch neu gewonnener
konservativer Ueberzeugung war seine Erklärung, wenn es für notwendig
befunden werden sollte — man bemerke, daß die Möglichkeit nur hypothetisch
ausgedrückt wird —, Aenderungen in der Beziehung von Kirche und Staat
vorzunehmen, so werde es nicht geschehen, um einen Angriff auf den Frieden
in Religionssachen und auf die Gewissensfreiheit zu machen. Selbst Guizot,
der sehr konservative und sehr fromme Minister der Julimonarchie, Hütte sich
nicht besser ausdrücken können als hier der radikale und im Herzen ungläubige
und kirchenfeindliche Premier neuesten Datums. Die ganze demokratische Welt
will ferner, daß die großen Städte die Befugnis erhalten sollen, die Kontrole
über ihre Polizei selbst in die Hand zu nehmen, und im Gegensatze dazu
weigert sich der radikale Demokrat, der heute an der Spitze der französischen
Verwaltung steht, Gesetz und Ordnung in Paris dem Munizipalrate zur
Wahrnehmung innerhalb der Stadt anzuvertrauen. Nach alledem scheint der
radikale Premier auch entschlossen zu sein, sich wenigstens dem Drängen nach so-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/260>, abgerufen am 01.09.2024.