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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne,

ohne den geringsten Versuch zu machen, sich zu beherrschen, so völlig ging er
in seinem Kummer auf. Fran Lyhne saß neben ihm. Auf dem Tische vor ihr
lag ein Gesangbuch, bei den Sterbeliedern aufgeschlagen. Hin und wieder las
sie einige Verse, hin und wieder beugte sie sich über den Sohn und sprach ihm
Trostesworte zu oder ermahnte ihn; Ricks aber ließ sich nicht trösten, und sie
konnte weder seinen Thränen noch dem wilden Flehen seiner Verzweiflung
Einhalt thun.

Dann erschien Lyhne in der Thür des Krankenzimmers. Er machte kein
Zeichen, er blickte sie nur ernsthaft an, und sie standen beide auf und folgten
ihm zu seiner Schwester. Er nahm sie beide bei der Hand und trat mit ihnen
ans Bett, und Edele blickte auf, schaute sie beide an und bewegte die Lippen
wie zu einem Worte; dann führte Lyhne seine Frau ans Fenster und setzte sich
zu ihr, während sich Ricks am Fußende des Bettes auf die Kniee warf.

Er weinte leise und betete mit gefalteten Händen inbrünstig und unauf¬
hörlich in gedämpftem, leidenschaftlichem Flüstern; er sagte zu Gott, daß er uicht
aufhören wolle zu hoffen: Ich lasse dich nicht, Herr, ich lasse dich nicht, ehe
du ja gesagt hast; du darfst sie nicht von uns nehmen, du weißt ja, wie wir
sie lieben; du darfst es nicht, du darfst es nicht. Ach, ich kann ja nicht sagen:
dein Wille geschehe, denn du willst sie sterben lassen; ach, laß sie doch leben,
ich will dir danken und dir gehorchen, ich will alles thun, was du willst, daß
ich thun soll; ich will so gut sein und niemals widerstreben, wenn du sie nur
leben lassen willst. Hörst du mich, mein Gott? O halt ein, halt ein, mache
sie wieder gesund, ehe es zu spät ist! Ich will auch -- ja ich will -- doch,
was kann ich dir nur versprechen? -- doch, ich will dir danken, dich nie, nie
vergessen; ach, so erhöre mich doch, mein Gott! du siehst ja, daß sie stirbt;
hörst du denn nicht? So nimm doch deine Hand fort von ihr, nimm sie fort,
ich kann sie nicht verlieren; mein Gott, ich kann es nicht, laß sie doch leben!
Willst dn nicht, willst du nicht? O, es ist unrecht von dir!

Draußen vor dem Fenster erröteten sie wie Rosen, die weißen Blüten, im
Scheine der sinkenden Sonne. Blumenkelche fügte der weiße Blütenflor Bogen
auf Bogen zu einer Nosenburg, zu einem Chor von Rosen; und durch die luf¬
tige Wölbung blaute der Abendhimmel dämmernd herein, während goldige
Lichter mit einem Purpurschimmer in Glorienstrahlen ans allen schwebenden Guir¬
landen des Blumentempels blitzten.

Bleich und still lag Edele da drinnen, die Hand des alten Mannes in der
ihren haltend. Langsam hauchte sie das Leben aus, Zug für Zug; schwächer
und schwächer hob sich die Brust, schwerer und schwerer wurden ihre Augenlider.

Grüße -- Kopenhagen! war ihr letztes, schwaches Flüstern.

Aber ihren letzten Gruß, den hörte niemand. Nicht einmal als Hauch
kam er über ihre Lippen, ihr Gruß an ihn, den großen Künstler, den sie im
Geheimen mit allen Fasern ihrer Seele geliebt hatte, dem sie aber nichts ge-


Ricks Lyhne,

ohne den geringsten Versuch zu machen, sich zu beherrschen, so völlig ging er
in seinem Kummer auf. Fran Lyhne saß neben ihm. Auf dem Tische vor ihr
lag ein Gesangbuch, bei den Sterbeliedern aufgeschlagen. Hin und wieder las
sie einige Verse, hin und wieder beugte sie sich über den Sohn und sprach ihm
Trostesworte zu oder ermahnte ihn; Ricks aber ließ sich nicht trösten, und sie
konnte weder seinen Thränen noch dem wilden Flehen seiner Verzweiflung
Einhalt thun.

Dann erschien Lyhne in der Thür des Krankenzimmers. Er machte kein
Zeichen, er blickte sie nur ernsthaft an, und sie standen beide auf und folgten
ihm zu seiner Schwester. Er nahm sie beide bei der Hand und trat mit ihnen
ans Bett, und Edele blickte auf, schaute sie beide an und bewegte die Lippen
wie zu einem Worte; dann führte Lyhne seine Frau ans Fenster und setzte sich
zu ihr, während sich Ricks am Fußende des Bettes auf die Kniee warf.

Er weinte leise und betete mit gefalteten Händen inbrünstig und unauf¬
hörlich in gedämpftem, leidenschaftlichem Flüstern; er sagte zu Gott, daß er uicht
aufhören wolle zu hoffen: Ich lasse dich nicht, Herr, ich lasse dich nicht, ehe
du ja gesagt hast; du darfst sie nicht von uns nehmen, du weißt ja, wie wir
sie lieben; du darfst es nicht, du darfst es nicht. Ach, ich kann ja nicht sagen:
dein Wille geschehe, denn du willst sie sterben lassen; ach, laß sie doch leben,
ich will dir danken und dir gehorchen, ich will alles thun, was du willst, daß
ich thun soll; ich will so gut sein und niemals widerstreben, wenn du sie nur
leben lassen willst. Hörst du mich, mein Gott? O halt ein, halt ein, mache
sie wieder gesund, ehe es zu spät ist! Ich will auch — ja ich will — doch,
was kann ich dir nur versprechen? — doch, ich will dir danken, dich nie, nie
vergessen; ach, so erhöre mich doch, mein Gott! du siehst ja, daß sie stirbt;
hörst du denn nicht? So nimm doch deine Hand fort von ihr, nimm sie fort,
ich kann sie nicht verlieren; mein Gott, ich kann es nicht, laß sie doch leben!
Willst dn nicht, willst du nicht? O, es ist unrecht von dir!

Draußen vor dem Fenster erröteten sie wie Rosen, die weißen Blüten, im
Scheine der sinkenden Sonne. Blumenkelche fügte der weiße Blütenflor Bogen
auf Bogen zu einer Nosenburg, zu einem Chor von Rosen; und durch die luf¬
tige Wölbung blaute der Abendhimmel dämmernd herein, während goldige
Lichter mit einem Purpurschimmer in Glorienstrahlen ans allen schwebenden Guir¬
landen des Blumentempels blitzten.

Bleich und still lag Edele da drinnen, die Hand des alten Mannes in der
ihren haltend. Langsam hauchte sie das Leben aus, Zug für Zug; schwächer
und schwächer hob sich die Brust, schwerer und schwerer wurden ihre Augenlider.

Grüße — Kopenhagen! war ihr letztes, schwaches Flüstern.

Aber ihren letzten Gruß, den hörte niemand. Nicht einmal als Hauch
kam er über ihre Lippen, ihr Gruß an ihn, den großen Künstler, den sie im
Geheimen mit allen Fasern ihrer Seele geliebt hatte, dem sie aber nichts ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/248>, abgerufen am 01.09.2024.