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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane.

passende Frau fiir Junker Hans im ganzen Neckarthal. Es wird daher eine
Intrigue gesponnen, welche die unbewußten Liebesleute zusammenbringen muß,
und nun rollt das Wägelchen von selbst weiter. Einen naiven, aber männlich
schönen, tapfern, großmütiger Liebhaber, eine spröde Frau, einige muntere, vor¬
witzige Backfische, eine in der Eifersucht sich still verzehrende Nebenfigur, die
brave Hausfrau, der kurzangebundene Hausvater, der aber Spaß versteht --
es sind lauter bekannte Typen aus dem deutschen Lustspiel, die aber Wolff mit
frischen Farben und unausbleiblichen Erfolge wieder vorgeführt hat.

Unser Weg führt uns abwärts von der Höhe des Idealisten Spiclhagcn
durch die heitere Bllrgerlichkeit Wolffs zu der Schilderung des sozialen Elends
im Proletariat der Großstadt, welche Paul Lindau in seinem Roman: Arme
Mädchen (zwei Bände; Stuttgart und Berlin, W. Spemann) entworfen hat.
Spielhagen und Wolff sind, wenn auch mit wechselndem Glück, dichterische
Naturen, Paul Lindau ist seinem Wesen nach ein Advokat, in diesem Falle
Staatsanwalt und Verteidiger zu gleicher Zeit. Er schildert uicht mit der
unbefangenen Gestaltungslust des Künstlers Menschen der verschiednen Art,
sondern er verfolgt eine Tendenz, diejenige nämlich, die Ungerechtigkeit unsrer
gesellschaftlichen Einrichtungen vorzuführen und zu geißeln. Die Nomanform
ist ihm nur das geeignetste Mittel, diese Tendenz in den weitesten Kreisen zu
verbreiten, und da er sich auf die Künste der Spannung und Rührung wohl
versteht, so erreicht er auch seinen Zweck in ausreichendem Maße. Eine Prüfung
verträgt allerdings solch ein Roman nicht. Der Erzähler stellt sich von vorn¬
herein auf einen einseitigen Standpunkt, er nimmt eine Abstraktion vor, eine
Trennung von unlösbar miteinander verwickelten Mächten, den zufälligen,
äußern, materiellen und den sittlichen, um seine Anschauung recht drastisch zu
beweisen, und dadurch wird sein Bild unwahr. Denn jedes Menschenleben ist
das Produkt des untrennbaren Jneincmderspiels der Verhältnisse und des Cha¬
rakters, Lindau will nur die Verhältnisse vorführen. Er will uns nachweisen, daß
die gesellschaftlichen Vorurteile und Zustände einem armen Mädchen der Gro߬
stadt es schlechtweg unmöglich machen, ohne seine Tugend zu verlieren und
ohne zu heiraten, das Leben zu fristen. Er führt uns in Zahlen, in Worten
und Handlungen den Nachweis, daß die Mädchen aus den untern Volksklassen
nicht so viel Mark verdiene", als sie auch nur für die allerbescheidensten Be¬
dürfnisse brauchen; daß sie demnach sehr verzeihlich handeln, wenn sie sich in
allerlei intime, aber höchst flüchtige Beziehungen zu Männern einlassen, um
nur einigen Zuschuß zu bekommen; er giebt uns eine kleine Typensammlung
solcher Mädchen, die von ihrer Schönheit halb oder ganz leben. Dieser Gruppe
stellt er ein andres Mädchen entgegen, welches von Natur aus keusch angelegt
ist, das nicht aus eingetrichterter Moral, auch nicht durch gutes Beispiel ge¬
leitet, sich schlechthin rein sittlich beträgt, das ist seine Heldin Margarete
Lessen. Durch einen abenteuerlichen Zufall wird sie sogar in die Lage versetzt,


Neue Romane.

passende Frau fiir Junker Hans im ganzen Neckarthal. Es wird daher eine
Intrigue gesponnen, welche die unbewußten Liebesleute zusammenbringen muß,
und nun rollt das Wägelchen von selbst weiter. Einen naiven, aber männlich
schönen, tapfern, großmütiger Liebhaber, eine spröde Frau, einige muntere, vor¬
witzige Backfische, eine in der Eifersucht sich still verzehrende Nebenfigur, die
brave Hausfrau, der kurzangebundene Hausvater, der aber Spaß versteht —
es sind lauter bekannte Typen aus dem deutschen Lustspiel, die aber Wolff mit
frischen Farben und unausbleiblichen Erfolge wieder vorgeführt hat.

Unser Weg führt uns abwärts von der Höhe des Idealisten Spiclhagcn
durch die heitere Bllrgerlichkeit Wolffs zu der Schilderung des sozialen Elends
im Proletariat der Großstadt, welche Paul Lindau in seinem Roman: Arme
Mädchen (zwei Bände; Stuttgart und Berlin, W. Spemann) entworfen hat.
Spielhagen und Wolff sind, wenn auch mit wechselndem Glück, dichterische
Naturen, Paul Lindau ist seinem Wesen nach ein Advokat, in diesem Falle
Staatsanwalt und Verteidiger zu gleicher Zeit. Er schildert uicht mit der
unbefangenen Gestaltungslust des Künstlers Menschen der verschiednen Art,
sondern er verfolgt eine Tendenz, diejenige nämlich, die Ungerechtigkeit unsrer
gesellschaftlichen Einrichtungen vorzuführen und zu geißeln. Die Nomanform
ist ihm nur das geeignetste Mittel, diese Tendenz in den weitesten Kreisen zu
verbreiten, und da er sich auf die Künste der Spannung und Rührung wohl
versteht, so erreicht er auch seinen Zweck in ausreichendem Maße. Eine Prüfung
verträgt allerdings solch ein Roman nicht. Der Erzähler stellt sich von vorn¬
herein auf einen einseitigen Standpunkt, er nimmt eine Abstraktion vor, eine
Trennung von unlösbar miteinander verwickelten Mächten, den zufälligen,
äußern, materiellen und den sittlichen, um seine Anschauung recht drastisch zu
beweisen, und dadurch wird sein Bild unwahr. Denn jedes Menschenleben ist
das Produkt des untrennbaren Jneincmderspiels der Verhältnisse und des Cha¬
rakters, Lindau will nur die Verhältnisse vorführen. Er will uns nachweisen, daß
die gesellschaftlichen Vorurteile und Zustände einem armen Mädchen der Gro߬
stadt es schlechtweg unmöglich machen, ohne seine Tugend zu verlieren und
ohne zu heiraten, das Leben zu fristen. Er führt uns in Zahlen, in Worten
und Handlungen den Nachweis, daß die Mädchen aus den untern Volksklassen
nicht so viel Mark verdiene», als sie auch nur für die allerbescheidensten Be¬
dürfnisse brauchen; daß sie demnach sehr verzeihlich handeln, wenn sie sich in
allerlei intime, aber höchst flüchtige Beziehungen zu Männern einlassen, um
nur einigen Zuschuß zu bekommen; er giebt uns eine kleine Typensammlung
solcher Mädchen, die von ihrer Schönheit halb oder ganz leben. Dieser Gruppe
stellt er ein andres Mädchen entgegen, welches von Natur aus keusch angelegt
ist, das nicht aus eingetrichterter Moral, auch nicht durch gutes Beispiel ge¬
leitet, sich schlechthin rein sittlich beträgt, das ist seine Heldin Margarete
Lessen. Durch einen abenteuerlichen Zufall wird sie sogar in die Lage versetzt,


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[0238] Neue Romane. passende Frau fiir Junker Hans im ganzen Neckarthal. Es wird daher eine Intrigue gesponnen, welche die unbewußten Liebesleute zusammenbringen muß, und nun rollt das Wägelchen von selbst weiter. Einen naiven, aber männlich schönen, tapfern, großmütiger Liebhaber, eine spröde Frau, einige muntere, vor¬ witzige Backfische, eine in der Eifersucht sich still verzehrende Nebenfigur, die brave Hausfrau, der kurzangebundene Hausvater, der aber Spaß versteht — es sind lauter bekannte Typen aus dem deutschen Lustspiel, die aber Wolff mit frischen Farben und unausbleiblichen Erfolge wieder vorgeführt hat. Unser Weg führt uns abwärts von der Höhe des Idealisten Spiclhagcn durch die heitere Bllrgerlichkeit Wolffs zu der Schilderung des sozialen Elends im Proletariat der Großstadt, welche Paul Lindau in seinem Roman: Arme Mädchen (zwei Bände; Stuttgart und Berlin, W. Spemann) entworfen hat. Spielhagen und Wolff sind, wenn auch mit wechselndem Glück, dichterische Naturen, Paul Lindau ist seinem Wesen nach ein Advokat, in diesem Falle Staatsanwalt und Verteidiger zu gleicher Zeit. Er schildert uicht mit der unbefangenen Gestaltungslust des Künstlers Menschen der verschiednen Art, sondern er verfolgt eine Tendenz, diejenige nämlich, die Ungerechtigkeit unsrer gesellschaftlichen Einrichtungen vorzuführen und zu geißeln. Die Nomanform ist ihm nur das geeignetste Mittel, diese Tendenz in den weitesten Kreisen zu verbreiten, und da er sich auf die Künste der Spannung und Rührung wohl versteht, so erreicht er auch seinen Zweck in ausreichendem Maße. Eine Prüfung verträgt allerdings solch ein Roman nicht. Der Erzähler stellt sich von vorn¬ herein auf einen einseitigen Standpunkt, er nimmt eine Abstraktion vor, eine Trennung von unlösbar miteinander verwickelten Mächten, den zufälligen, äußern, materiellen und den sittlichen, um seine Anschauung recht drastisch zu beweisen, und dadurch wird sein Bild unwahr. Denn jedes Menschenleben ist das Produkt des untrennbaren Jneincmderspiels der Verhältnisse und des Cha¬ rakters, Lindau will nur die Verhältnisse vorführen. Er will uns nachweisen, daß die gesellschaftlichen Vorurteile und Zustände einem armen Mädchen der Gro߬ stadt es schlechtweg unmöglich machen, ohne seine Tugend zu verlieren und ohne zu heiraten, das Leben zu fristen. Er führt uns in Zahlen, in Worten und Handlungen den Nachweis, daß die Mädchen aus den untern Volksklassen nicht so viel Mark verdiene», als sie auch nur für die allerbescheidensten Be¬ dürfnisse brauchen; daß sie demnach sehr verzeihlich handeln, wenn sie sich in allerlei intime, aber höchst flüchtige Beziehungen zu Männern einlassen, um nur einigen Zuschuß zu bekommen; er giebt uns eine kleine Typensammlung solcher Mädchen, die von ihrer Schönheit halb oder ganz leben. Dieser Gruppe stellt er ein andres Mädchen entgegen, welches von Natur aus keusch angelegt ist, das nicht aus eingetrichterter Moral, auch nicht durch gutes Beispiel ge¬ leitet, sich schlechthin rein sittlich beträgt, das ist seine Heldin Margarete Lessen. Durch einen abenteuerlichen Zufall wird sie sogar in die Lage versetzt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/238>, abgerufen am 01.09.2024.