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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Totentanz der Minister in Paris.

garnier, dann Louis Napoleon, 1871 Thiers und 1873 Macinahon. Jetzt ist
es Boulanger, zwar mittlerer Größe, aber unter noch kleineren fast ein Niese,
wenigstens in den Augen vieler. Der neue Mann hat nur den einen Fehler,
er vertritt vorläufig nicht die Reaktion nach einer Befestigung des Staates,
sondern den Fortgang zu intensiverer Verwirrung, Lockerung und Auflösung.
Seine Gehilfen bestehen in lärmenden Radikalen mit zweifelhaftem Vorleben
und bedenklichem politischen Tone, welche ein Gemisch von Cäsarismus und
Kommune reden. Das darf aber nicht überraschen, da 1793 der rücksichtsloseste
Despotismus, den Frankreich je erlebte, von einer Rotte von Hallunken im
Namen der Freiheit geübt wurde. Es wäre aber nicht völlig unmöglich, daß
Boulanger, selbst wenn er durch eine Revolution der extremen Radikalen an
die Gewalt käme, den Franzosen wenigstens für einige Zeit das gäbe, was sie
brauchen, und was die Verständigen unter ihnen herbeisehnen, eine starke, feste
Negierung, frei von parlamentarischer Geschwätzigkeit, Streberei und Unfrucht-
barkeit. Solche Verwandlungen von Demagogen in Diktatoren mit eisernen
Händen sind nicht bloß im alten Rom mehrmals vorgekommen. In Frankreich
hatte man die beiden Vonaparte. In der spätern Politik Gambettas finden
sich Anzeichen einer deutlichen Anwendung zu konservativem Denken, und hätte
er eine Revolution, wie sie jetzt möglich ist, erlebt und Macht besessen, so würde
er so entschlossen gegen sie aufgetreten sein wie Thiers gegen die Pariser Kom¬
mune. So ist es am Ende keine große Thorheit, wenn die Reaktionäre in
der Kammer mit dem Feuer des Boulaugerismus spielen; sie mögen glauben,
daß, wenn Not an Mann geht, jeder Herrschende in Frankreich sich entschließen
muß, ans den unbotmäßigen Pöbel Feuer geben zu lassen.

Zuletzt noch eins. Jedes weitere Jahr seit dem Sturze des Kaisertums
hat die weitblickende Weisheit unsers Reichskanzlers handgreiflicher gerechtfertigt,
mit der er glaubte, daß die Republik in Frankreich für das übrige Europa die
an wenigsten gefährlichste Regierungsform sein würde. Armin hatte eine ent¬
gegengesetzte Ansicht. Erfüllt vom Geiste der heiligen Allianz und von der
Erinnerung an die thronstürzenden Siege der Sansculottenheere, mit denen die
erste französische Revolution für ihre Ideen Propaganda machte, bedachte er
nicht, daß Europa inzwischen ein andres geworden war, und fürchtete deshalb
eine Wiederholung jener Kraftleistungen durch die dritte Republik. Diese aber
hatte keine Aussichten der Art, sie sah sich Starken, statt gebrechlichen Alten
gegenüber, besonders dem durch Preußen geeinten Deutschland. Sie begann
ihr Dasein als Besiegte, pekuniär Abgezapfte und Verstümmelte. Fürst Bismarck
sah voraus, was kommen mußte. Es gab im Lande verschiedne unversöhnliche
Parteien, drei monarchische und ebenso viel republikanische, die nur in der
Opposition sich verbinden konnten und kein festes Ministerium aufkommen ließen.
Er begriff, daß kein Souverän Europas sich zu einem Bündnis mit einem
Staate entschließen würde, dessen Ministerien unablässig kommen, um wieder zu


Der Totentanz der Minister in Paris.

garnier, dann Louis Napoleon, 1871 Thiers und 1873 Macinahon. Jetzt ist
es Boulanger, zwar mittlerer Größe, aber unter noch kleineren fast ein Niese,
wenigstens in den Augen vieler. Der neue Mann hat nur den einen Fehler,
er vertritt vorläufig nicht die Reaktion nach einer Befestigung des Staates,
sondern den Fortgang zu intensiverer Verwirrung, Lockerung und Auflösung.
Seine Gehilfen bestehen in lärmenden Radikalen mit zweifelhaftem Vorleben
und bedenklichem politischen Tone, welche ein Gemisch von Cäsarismus und
Kommune reden. Das darf aber nicht überraschen, da 1793 der rücksichtsloseste
Despotismus, den Frankreich je erlebte, von einer Rotte von Hallunken im
Namen der Freiheit geübt wurde. Es wäre aber nicht völlig unmöglich, daß
Boulanger, selbst wenn er durch eine Revolution der extremen Radikalen an
die Gewalt käme, den Franzosen wenigstens für einige Zeit das gäbe, was sie
brauchen, und was die Verständigen unter ihnen herbeisehnen, eine starke, feste
Negierung, frei von parlamentarischer Geschwätzigkeit, Streberei und Unfrucht-
barkeit. Solche Verwandlungen von Demagogen in Diktatoren mit eisernen
Händen sind nicht bloß im alten Rom mehrmals vorgekommen. In Frankreich
hatte man die beiden Vonaparte. In der spätern Politik Gambettas finden
sich Anzeichen einer deutlichen Anwendung zu konservativem Denken, und hätte
er eine Revolution, wie sie jetzt möglich ist, erlebt und Macht besessen, so würde
er so entschlossen gegen sie aufgetreten sein wie Thiers gegen die Pariser Kom¬
mune. So ist es am Ende keine große Thorheit, wenn die Reaktionäre in
der Kammer mit dem Feuer des Boulaugerismus spielen; sie mögen glauben,
daß, wenn Not an Mann geht, jeder Herrschende in Frankreich sich entschließen
muß, ans den unbotmäßigen Pöbel Feuer geben zu lassen.

Zuletzt noch eins. Jedes weitere Jahr seit dem Sturze des Kaisertums
hat die weitblickende Weisheit unsers Reichskanzlers handgreiflicher gerechtfertigt,
mit der er glaubte, daß die Republik in Frankreich für das übrige Europa die
an wenigsten gefährlichste Regierungsform sein würde. Armin hatte eine ent¬
gegengesetzte Ansicht. Erfüllt vom Geiste der heiligen Allianz und von der
Erinnerung an die thronstürzenden Siege der Sansculottenheere, mit denen die
erste französische Revolution für ihre Ideen Propaganda machte, bedachte er
nicht, daß Europa inzwischen ein andres geworden war, und fürchtete deshalb
eine Wiederholung jener Kraftleistungen durch die dritte Republik. Diese aber
hatte keine Aussichten der Art, sie sah sich Starken, statt gebrechlichen Alten
gegenüber, besonders dem durch Preußen geeinten Deutschland. Sie begann
ihr Dasein als Besiegte, pekuniär Abgezapfte und Verstümmelte. Fürst Bismarck
sah voraus, was kommen mußte. Es gab im Lande verschiedne unversöhnliche
Parteien, drei monarchische und ebenso viel republikanische, die nur in der
Opposition sich verbinden konnten und kein festes Ministerium aufkommen ließen.
Er begriff, daß kein Souverän Europas sich zu einem Bündnis mit einem
Staate entschließen würde, dessen Ministerien unablässig kommen, um wieder zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/151>, abgerufen am 01.09.2024.