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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Tolentcinz der Minister in Paris,

opponiren ist immer leichter als schaffen und handeln. Aber es wird sich nun
zeigen, ob die Gesinnungsgenossen sich der bessern Erkenntnis der Regierung
anschließen werden, weil einer von den Ihrigen an die Spitze derselben gelaugt
ist. Ein schönes Licht würde dadurch auf ihre Übcrzeugungstrcne keinenfalls
fallen. Nicht besser als die Verfassungsrevision kommen andre Artikel des
Credo der Radikalen in Floquets Rede weg, weder die Einkommensteuer noch
die Trennung von Kirche und Staat haben darinnen eine Stelle gefunden.
Wohl aber malt der neue Ministerpräsident das Schreckgespenst der Diktatur
an die Wand und stellt sich auch damit ganz auf den Standpunkt seiner bis¬
herigen Gegner. Er kann aber nicht anders, es ist Gefahr vor der Thür, und
man muß behutsam und maßvoll auftreten. Dieses Ministerium ist wohl der
letzte Versuch einer Regierungsbildung uuter dem gegenwärtigen parlamentarischen
Regiment, der letzte Versuch, zu hindern, daß die Krankheit, die sie der Republik
zugezogen hat, in galoppirende Schwindsucht übergeht. Vermag Floquet sich
nicht zu halten, dann bleibt nur die Auflösung der Wahlkammer und die Be¬
rufung an das Land übrig, also gerade das, was Boulanger in seiner Kandi¬
datenansprache an die Wähler des Norddepartements neben der Verfassungs-
revision vorzüglich wünschte, um sich, sobald es erfüllt worden, dem Volke als
Retter in der Not vorstellen und empfehlen zu können. Er ist zwar durchaus
kein großer Mann, aber die Demokratie, welche nur Mittelmäßigkeiten aufkommen
läßt und duldet, hat es dahin gebracht, daß ihm auch kein großer Mann gegen¬
übersteht, und kein stark organisirtes System hemmt seine ehrgeizigen Pläne.
Dazu kommt die Erinnerung, daß Floquet und zwei untre der neuen Minister
einst seine Freunde waren. Frehcinet berief, als er Ministerpräsident war, den
General als Kriegsminister in sein Kabinet. Goblet behielt ihn, als er selbst
zur Gewalt gelangt war, den "Nativnalhelden," an jener Stelle und harmonirte
gelegentlich mit ihm, soweit es anging, in chauvinistischen Kundgebungen, wie
er sich denn, als der Schnäbele-Vorfall die Gemüter erhitzte, von Grcwt) den
Vorwurf zuzog, Frankreich leichten Sinnes in Kriegsgefahr verwickelt zu haben.
Es fragt sich, wie er und der elastische, aalglatte, sich leicht anbequemende Frey-
cinet, der neue Kriegsminister, jetzt über ihn denken.

Sicher ist, daß die Republik und die Volksvertretung in der letzten Zeit
viel an Achtung und Ansehen eingebüßt haben. Sie sind Gegenstände des
Hasses und der Geringschätzung bei vielen Parteien, bei allen realistischen und
imperialistischen Gruppen, sowie bei den roten Radikalen und Sozialisten in
Paris und im Süden, welche Felix Pyat, den schäbigsten politischen Barmbas,
jedem anständigen Manne vorziehen. Es hat um schon wiederholt Zeiten in
Frankreich gegeben, wo, als die Institutionen des Landes erschüttert und mit
dem Zusammenbruche bedroht waren, ein hervorragender Manu sich als Retter
oder Beschützer vor der Anarchie anbot. 1789 war es Mirabeau, zehn Jahre
später Bonaparte, 1830 Ludwig Philipp, 1848 Cavaignac und später Chan-


Der Tolentcinz der Minister in Paris,

opponiren ist immer leichter als schaffen und handeln. Aber es wird sich nun
zeigen, ob die Gesinnungsgenossen sich der bessern Erkenntnis der Regierung
anschließen werden, weil einer von den Ihrigen an die Spitze derselben gelaugt
ist. Ein schönes Licht würde dadurch auf ihre Übcrzeugungstrcne keinenfalls
fallen. Nicht besser als die Verfassungsrevision kommen andre Artikel des
Credo der Radikalen in Floquets Rede weg, weder die Einkommensteuer noch
die Trennung von Kirche und Staat haben darinnen eine Stelle gefunden.
Wohl aber malt der neue Ministerpräsident das Schreckgespenst der Diktatur
an die Wand und stellt sich auch damit ganz auf den Standpunkt seiner bis¬
herigen Gegner. Er kann aber nicht anders, es ist Gefahr vor der Thür, und
man muß behutsam und maßvoll auftreten. Dieses Ministerium ist wohl der
letzte Versuch einer Regierungsbildung uuter dem gegenwärtigen parlamentarischen
Regiment, der letzte Versuch, zu hindern, daß die Krankheit, die sie der Republik
zugezogen hat, in galoppirende Schwindsucht übergeht. Vermag Floquet sich
nicht zu halten, dann bleibt nur die Auflösung der Wahlkammer und die Be¬
rufung an das Land übrig, also gerade das, was Boulanger in seiner Kandi¬
datenansprache an die Wähler des Norddepartements neben der Verfassungs-
revision vorzüglich wünschte, um sich, sobald es erfüllt worden, dem Volke als
Retter in der Not vorstellen und empfehlen zu können. Er ist zwar durchaus
kein großer Mann, aber die Demokratie, welche nur Mittelmäßigkeiten aufkommen
läßt und duldet, hat es dahin gebracht, daß ihm auch kein großer Mann gegen¬
übersteht, und kein stark organisirtes System hemmt seine ehrgeizigen Pläne.
Dazu kommt die Erinnerung, daß Floquet und zwei untre der neuen Minister
einst seine Freunde waren. Frehcinet berief, als er Ministerpräsident war, den
General als Kriegsminister in sein Kabinet. Goblet behielt ihn, als er selbst
zur Gewalt gelangt war, den „Nativnalhelden," an jener Stelle und harmonirte
gelegentlich mit ihm, soweit es anging, in chauvinistischen Kundgebungen, wie
er sich denn, als der Schnäbele-Vorfall die Gemüter erhitzte, von Grcwt) den
Vorwurf zuzog, Frankreich leichten Sinnes in Kriegsgefahr verwickelt zu haben.
Es fragt sich, wie er und der elastische, aalglatte, sich leicht anbequemende Frey-
cinet, der neue Kriegsminister, jetzt über ihn denken.

Sicher ist, daß die Republik und die Volksvertretung in der letzten Zeit
viel an Achtung und Ansehen eingebüßt haben. Sie sind Gegenstände des
Hasses und der Geringschätzung bei vielen Parteien, bei allen realistischen und
imperialistischen Gruppen, sowie bei den roten Radikalen und Sozialisten in
Paris und im Süden, welche Felix Pyat, den schäbigsten politischen Barmbas,
jedem anständigen Manne vorziehen. Es hat um schon wiederholt Zeiten in
Frankreich gegeben, wo, als die Institutionen des Landes erschüttert und mit
dem Zusammenbruche bedroht waren, ein hervorragender Manu sich als Retter
oder Beschützer vor der Anarchie anbot. 1789 war es Mirabeau, zehn Jahre
später Bonaparte, 1830 Ludwig Philipp, 1848 Cavaignac und später Chan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/150>, abgerufen am 28.07.2024.