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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav u.lieodor Lechners,

Angriff schmerzlich berührte. Dann hat er wieder mannesmutig, unbekümmert
um den Erfolg, ja mit dem sieghaften Bewußtsein, daß er eine Arbeit für die
Zukunft gethan habe, neue Bausteine beigebracht und in dem philosophischen
Teile der "Atomenlehre," in einzelnen Kapiteln der "Elemente der Psychophysik"
den Zusammenhang zwischen seiner Glaubenswelt und der Welt der Wissenschaft
vermittelt, seine Lehre in den Schriften: "Die drei Motive und Gründe des
Glaubens" (1863) und "Über die Scelenfrage" (1861) unter andern Gesichts¬
punkten begründet, in deu "Ideen der Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte
der Organismen (1873) sich der Frage der Teleologie, in Kapiteln der "Vor¬
schule der Ästhetik" (1876) den ethischen Grundfragen zugewandt und endlich
1879 in dem Buche: "Die Tagcsausicht gegenüber der Nachtansicht" Einkehr
und Umschau gehalten.

Gleichsam das Fazit ans seiner Lebensarbeit ziehend, entwickelt der greise,
aber jugendfrische Forscher in dem letzgenannten Buche seine Weltansicht als
ein geschlossenes System. Er betont nochmals seinen Naturforscherstandpunkt
in bemerkenswerten Erörterungen des Kausalgesetzes, des teleologischen Prinzips,
der psychophysischen Auffassung und andern Grundfragen der Naturwissenschaft.
Von den Forderungen der wissenschaftlichen Erkenntnis will er nichts preis¬
geben; vielmehr müssen sich die Forderungen des Glaubens in jeder Hinsicht
nach den Konsequenzen eiuer naturwissenschaftlichen Auffassung der Natur richten.
So kehrt die "Tagesansicht" sich gegen jede Auffassung von Religion und
Christentum, welche ein Preisgeben naturwissenschaftlicher Prinzipien oder Er¬
rungenschaften verlangt, nicht minder wie gegen jedes Übergreifen wissenschaft¬
licher Schlußfolgerungen in das Gebiet des Glaubens, und dieses Streben, die
Grenzen des Glaubens und Wissens nicht in einander laufen zu lassen, beherrscht
vor allem die Darlegung der Frage nach der Freiheit des Willens und der
damit zusammenhängenden Fragen des Optimismus und Pessimismus.

Fechners Glaubensstandpunkt zeugt von seltener Charaktergröße und seltener
Innigkeit. Der schlichte, anspruchslose Mann hat es gewagt, den Naturforschern,
Philosophen und Theologen gleichzeitig entgegenzutreten, eines jeden unberechtigte
Ansprüche abzuweisen, und so blieb er allein mit seinem Glauben, den zu ver¬
schweigen, für sich zu behalten er als eine Charakterschwäche betrachtet hätte.
"Ungern aber geht man einsam des Weges, nach einem Ziele blickend, das uns
würdig dünkt, auch andern ein Ziel zu sein," sagt er einmal, und getröstet sich
ein andermal, das er denselben Weg gehe, den die edelsten Dichter und Philo¬
sophen gegangen seien.

Wenn der Kulturgchalt unsrer klassischen Dichterwerke und unsrer klassischen
Philosophie in das Bewußtsein der ganzen Nation aufgenommen und der schöne
Tag der geistigen Einigung aller angebrochen fein wird, dann werden die Tafeln
der Geschichte auch von der Tagescmsicht Fechners als einer Vorahnung der
neuen Zeit berichten.




Zum Andenken Gustav u.lieodor Lechners,

Angriff schmerzlich berührte. Dann hat er wieder mannesmutig, unbekümmert
um den Erfolg, ja mit dem sieghaften Bewußtsein, daß er eine Arbeit für die
Zukunft gethan habe, neue Bausteine beigebracht und in dem philosophischen
Teile der „Atomenlehre," in einzelnen Kapiteln der „Elemente der Psychophysik"
den Zusammenhang zwischen seiner Glaubenswelt und der Welt der Wissenschaft
vermittelt, seine Lehre in den Schriften: „Die drei Motive und Gründe des
Glaubens" (1863) und „Über die Scelenfrage" (1861) unter andern Gesichts¬
punkten begründet, in deu „Ideen der Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte
der Organismen (1873) sich der Frage der Teleologie, in Kapiteln der „Vor¬
schule der Ästhetik" (1876) den ethischen Grundfragen zugewandt und endlich
1879 in dem Buche: „Die Tagcsausicht gegenüber der Nachtansicht" Einkehr
und Umschau gehalten.

Gleichsam das Fazit ans seiner Lebensarbeit ziehend, entwickelt der greise,
aber jugendfrische Forscher in dem letzgenannten Buche seine Weltansicht als
ein geschlossenes System. Er betont nochmals seinen Naturforscherstandpunkt
in bemerkenswerten Erörterungen des Kausalgesetzes, des teleologischen Prinzips,
der psychophysischen Auffassung und andern Grundfragen der Naturwissenschaft.
Von den Forderungen der wissenschaftlichen Erkenntnis will er nichts preis¬
geben; vielmehr müssen sich die Forderungen des Glaubens in jeder Hinsicht
nach den Konsequenzen eiuer naturwissenschaftlichen Auffassung der Natur richten.
So kehrt die „Tagesansicht" sich gegen jede Auffassung von Religion und
Christentum, welche ein Preisgeben naturwissenschaftlicher Prinzipien oder Er¬
rungenschaften verlangt, nicht minder wie gegen jedes Übergreifen wissenschaft¬
licher Schlußfolgerungen in das Gebiet des Glaubens, und dieses Streben, die
Grenzen des Glaubens und Wissens nicht in einander laufen zu lassen, beherrscht
vor allem die Darlegung der Frage nach der Freiheit des Willens und der
damit zusammenhängenden Fragen des Optimismus und Pessimismus.

Fechners Glaubensstandpunkt zeugt von seltener Charaktergröße und seltener
Innigkeit. Der schlichte, anspruchslose Mann hat es gewagt, den Naturforschern,
Philosophen und Theologen gleichzeitig entgegenzutreten, eines jeden unberechtigte
Ansprüche abzuweisen, und so blieb er allein mit seinem Glauben, den zu ver¬
schweigen, für sich zu behalten er als eine Charakterschwäche betrachtet hätte.
„Ungern aber geht man einsam des Weges, nach einem Ziele blickend, das uns
würdig dünkt, auch andern ein Ziel zu sein," sagt er einmal, und getröstet sich
ein andermal, das er denselben Weg gehe, den die edelsten Dichter und Philo¬
sophen gegangen seien.

Wenn der Kulturgchalt unsrer klassischen Dichterwerke und unsrer klassischen
Philosophie in das Bewußtsein der ganzen Nation aufgenommen und der schöne
Tag der geistigen Einigung aller angebrochen fein wird, dann werden die Tafeln
der Geschichte auch von der Tagescmsicht Fechners als einer Vorahnung der
neuen Zeit berichten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/132>, abgerufen am 27.07.2024.