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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Boulangerismus in Paris.

Boulanger kam in aller Frühe aus Clermont-Ferrand auf dem Lyoner
Bahnhofe an. Unterwegs hatten sich ihm die Deputirten Laguerre und La
Herisse angeschlossen, in Paris empfingen ihn noch etwa zwanzig Anhänger,
darunter der Graf Dillon, der mit der Gesellschaft nach seiner Wohnung in
Passy fuhr. Hier wurde über die Wahl des Generals für Marseille Rat ge¬
pflogen, die von Freunden desselben in Vorschlag gebracht worden war, und
beschlossen, den Boulangeristen der Phocäerstadt zu telegraphiren, da ihr Kandidat
ihm Heere zu verbleiben wünsche und als Angehöriger desselben nicht wählbar
sein würde, so werde man ihre Stimmen für ihn nur annehmen, wenn sie in
Gestalt eines nationalen Einspruchs gegen seine Maßregelung abgegeben würden.
Zu diesem Zwecke scheint man sich mit dem Deputirten Clovis Hugues und
andern Radikalen verständigt zu haben, die den General trotz des Gerüchts von
seiner Verbindung mit den reaktionären Parteien zu unterstützen entschlossen
sind; denn jener feurige Vertreter Marseilles erklärte am Nachmittag seine
Bereitwilligkeit, sein Mandat an Boulanger abzutreten und ihm so Gelegenheit
zu bieten, einen nationalen Protest zu benutzen. Während derselben Zeit gab
es wieder einige Demonstrationen auf den Boulevards, die aber nur von
Gamins ins Werk gesetzt wurden. Um sechs Uhr erkannten diese den General,
als er sich in einer Droschke nach dem Hotel du Louvre begeben wollte, und
versuchten ihm die Pferde aufzuspannen. Er flüchtete indes in einen Laden
und wurde mit Unterstützung von Polizei in eine Hintergasse geführt, aus der
ihn ein andrer Wagen in sein Gasthaus beförderte. Vor diesem fand noch in
der Nacht eine Ansammlung schreienden Volkes statt, es waren aber nur "Calicots"
und "Straßenaraber," und die Polizei trieb sie bald hinweg. Auch auf der
Rue Montmartre herrschte noch spät lärmendes Getümmel, aber auch hier war
hinreichend dafür gesorgt, daß ein Überschäumen der Gefühle über das Maß
des Zulässigen unterblieb, und daß die Boulangeristen ihre anfängliche Absicht,
nach dem Elysee zu ziehen und vor dem Präsidenten der Republik zu Protestiren,
aufgaben. Sie würden dabei auf einen warmen Empfang gestoßen sein, denn
ein guter Teil der Garnison war in den Kasernen zusammengezogen.

Was die Maßregelung Boulangers betrifft, so sind die Meinungen darüber,
wie aus Paris berichtet wird, auch unter Politikern, die nicht zu seinen Freunden
zählen, geteilt. Die über ihn verhängte Strafe ist hart. Der Kriegsminister
kann ihn in "Nichtaktivitä't" belassen, was der "Verabschiedung" nahe kommt,
und zwar darf er ihn in jener Stellung drei Jahre halten; erst dann ist er
verpflichtet, einen Untersuchungsrat zu berufen, der zu entscheiden hat, ob der
General mit rstraits ä'oWoe, d. h. dauernder Entfernung aus dem Militär¬
dienste, zu bestrafen oder wieder in die Liste der aktiven Offiziere zu versetzen
ist. Da er dreißig Jahre gedient hat, unterliegt er nicht der Strafe der
rstorlns, aber selbst wenn er bei dem Untersuchungsrate eine ihm günstige Ent¬
scheidung erlangte, könnte ihn der^Kriegsminister, Ms er es für notwendig


Der Boulangerismus in Paris.

Boulanger kam in aller Frühe aus Clermont-Ferrand auf dem Lyoner
Bahnhofe an. Unterwegs hatten sich ihm die Deputirten Laguerre und La
Herisse angeschlossen, in Paris empfingen ihn noch etwa zwanzig Anhänger,
darunter der Graf Dillon, der mit der Gesellschaft nach seiner Wohnung in
Passy fuhr. Hier wurde über die Wahl des Generals für Marseille Rat ge¬
pflogen, die von Freunden desselben in Vorschlag gebracht worden war, und
beschlossen, den Boulangeristen der Phocäerstadt zu telegraphiren, da ihr Kandidat
ihm Heere zu verbleiben wünsche und als Angehöriger desselben nicht wählbar
sein würde, so werde man ihre Stimmen für ihn nur annehmen, wenn sie in
Gestalt eines nationalen Einspruchs gegen seine Maßregelung abgegeben würden.
Zu diesem Zwecke scheint man sich mit dem Deputirten Clovis Hugues und
andern Radikalen verständigt zu haben, die den General trotz des Gerüchts von
seiner Verbindung mit den reaktionären Parteien zu unterstützen entschlossen
sind; denn jener feurige Vertreter Marseilles erklärte am Nachmittag seine
Bereitwilligkeit, sein Mandat an Boulanger abzutreten und ihm so Gelegenheit
zu bieten, einen nationalen Protest zu benutzen. Während derselben Zeit gab
es wieder einige Demonstrationen auf den Boulevards, die aber nur von
Gamins ins Werk gesetzt wurden. Um sechs Uhr erkannten diese den General,
als er sich in einer Droschke nach dem Hotel du Louvre begeben wollte, und
versuchten ihm die Pferde aufzuspannen. Er flüchtete indes in einen Laden
und wurde mit Unterstützung von Polizei in eine Hintergasse geführt, aus der
ihn ein andrer Wagen in sein Gasthaus beförderte. Vor diesem fand noch in
der Nacht eine Ansammlung schreienden Volkes statt, es waren aber nur „Calicots"
und „Straßenaraber," und die Polizei trieb sie bald hinweg. Auch auf der
Rue Montmartre herrschte noch spät lärmendes Getümmel, aber auch hier war
hinreichend dafür gesorgt, daß ein Überschäumen der Gefühle über das Maß
des Zulässigen unterblieb, und daß die Boulangeristen ihre anfängliche Absicht,
nach dem Elysee zu ziehen und vor dem Präsidenten der Republik zu Protestiren,
aufgaben. Sie würden dabei auf einen warmen Empfang gestoßen sein, denn
ein guter Teil der Garnison war in den Kasernen zusammengezogen.

Was die Maßregelung Boulangers betrifft, so sind die Meinungen darüber,
wie aus Paris berichtet wird, auch unter Politikern, die nicht zu seinen Freunden
zählen, geteilt. Die über ihn verhängte Strafe ist hart. Der Kriegsminister
kann ihn in „Nichtaktivitä't" belassen, was der „Verabschiedung" nahe kommt,
und zwar darf er ihn in jener Stellung drei Jahre halten; erst dann ist er
verpflichtet, einen Untersuchungsrat zu berufen, der zu entscheiden hat, ob der
General mit rstraits ä'oWoe, d. h. dauernder Entfernung aus dem Militär¬
dienste, zu bestrafen oder wieder in die Liste der aktiven Offiziere zu versetzen
ist. Da er dreißig Jahre gedient hat, unterliegt er nicht der Strafe der
rstorlns, aber selbst wenn er bei dem Untersuchungsrate eine ihm günstige Ent¬
scheidung erlangte, könnte ihn der^Kriegsminister, Ms er es für notwendig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/11>, abgerufen am 27.07.2024.