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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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In den Parlamentsferien.

ehedem. Es darf sogar zugegeben werden, daß sich hie und da eine bedauer¬
liche Gleichgiltigkeit gegen die Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten
überhaupt eingestellt hat. Bedauerlich, aber keineswegs unerklärlich. Denn von
der eigentlichen, ernsten parlamentarischen Arbeit erfahren die Draußenstehenden
viel weniger, als von den Leistungen der Redegewaltigen und der Witzlinge.
Was wunder, wenn man sich in immer weiteren Kreisen gewöhnt, das Ganze
als ein Schauspiel anzusehen, in welchem die Handelnden nur das eine Ziel
vor Augen haben: den Beifall des geehrten Publikums auf den Galerien und
des zeitmigslesenden zu erringen! Das ist im großen und ganzen ein Irrtum,
und selbst diejenigen, welche man Komödianten nennen darf, Pflegen, mit ein¬
zelnen berühmten Ausnahmen, sich auf der Bühne oder Tribüne leider der¬
maßen zu erhitzen, daß sie für den Augenblick an den Ernst ihrer Worte
glauben. Desto kränkender muß für sie die kühle Haltung des großen Publikums
sein, welches ihnen zuruft: "Ereifert euch nicht! Euer Parteigezänk ist uns
höchst gleichgiltig, eure Interessen sind nicht die unsern, wir wollen in Ruhe
und Sicherheit unsern Geschäften nachgehen, und wer uns die Ruhe und
Sicherheit verbürgt, ist unser Mann, heiße er Hinz oder Kunz, sei er auf dieses
oder jenes Fraktionsprogramm eingeschworen." Auch das haben wir im Laufe
des Winters in mancherlei Sprachen lesen können, französisch, englisch, ita¬
lienisch -- deutsch nicht zu vergessen.

Die Gefahr, welche in dem Überhandnehmen der Gleichgiltigkeit gegen die
politischen Fragen enthalten ist, wird natürlich geringer, wo die Staatseinrich¬
tungen fest und der Wille vorhanden ist, nicht daran rütteln zu lassen. Aber
den Franzosen fängt bereits an unheimlich zu werden. Ihnen dämmert die Er¬
innerung auf, daß sie vor beinahe vierzig Jahren schon eine ganz ähnliche Zeit
durchgemacht haben, als Monarchisten von der alten und von der neue"
Richtung, blaue und rote Republikaner sich herumbalgten, nicht merkten, daß
sie samt und sonders den Boden im Volke verloren hatten und daß der ver¬
spottete Held von Boulogne ihnen die Schlinge um den Hals legte. Wenn
nun heute in der dritten Stadt Frankreichs Anarchisten, Radikale und Bona¬
partisten einen der verruchtesten Unruhstifter zum Abgeordneten machen, die
nächstmeisten Stimmen ein Orleanist und nur halb so viele der Kandidat der
gemäßigten Republikaner erhält, in einem andern Departement mit offener
Verhöhnung des Gesetzes "der Saint-Arnaud des Vg.k6 elig-ntÄiit" auf den
Schild geschoben wird, so muß das allerdings den vernünftigen Leuten zu
denken geben, wie Herr Windthorst zu sagen liebt. Und doch ist die Sache so
klar. Während die Deputirten das Stürzen der Regierungen wie ein Gesell¬
schaftsspiel betrieben, haben sie sich selbst so vollständig um den Kredit gebracht,
daß alles nach einer Autorität lechzt, unter welchem Banner sie auch ihren
Einzug halten möge, und wiederum werden sie des Ernstes noch immer nicht
gewahr, agitiren und intriguiren für ihre bittersten Feinde, um nur nicht die


In den Parlamentsferien.

ehedem. Es darf sogar zugegeben werden, daß sich hie und da eine bedauer¬
liche Gleichgiltigkeit gegen die Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten
überhaupt eingestellt hat. Bedauerlich, aber keineswegs unerklärlich. Denn von
der eigentlichen, ernsten parlamentarischen Arbeit erfahren die Draußenstehenden
viel weniger, als von den Leistungen der Redegewaltigen und der Witzlinge.
Was wunder, wenn man sich in immer weiteren Kreisen gewöhnt, das Ganze
als ein Schauspiel anzusehen, in welchem die Handelnden nur das eine Ziel
vor Augen haben: den Beifall des geehrten Publikums auf den Galerien und
des zeitmigslesenden zu erringen! Das ist im großen und ganzen ein Irrtum,
und selbst diejenigen, welche man Komödianten nennen darf, Pflegen, mit ein¬
zelnen berühmten Ausnahmen, sich auf der Bühne oder Tribüne leider der¬
maßen zu erhitzen, daß sie für den Augenblick an den Ernst ihrer Worte
glauben. Desto kränkender muß für sie die kühle Haltung des großen Publikums
sein, welches ihnen zuruft: „Ereifert euch nicht! Euer Parteigezänk ist uns
höchst gleichgiltig, eure Interessen sind nicht die unsern, wir wollen in Ruhe
und Sicherheit unsern Geschäften nachgehen, und wer uns die Ruhe und
Sicherheit verbürgt, ist unser Mann, heiße er Hinz oder Kunz, sei er auf dieses
oder jenes Fraktionsprogramm eingeschworen." Auch das haben wir im Laufe
des Winters in mancherlei Sprachen lesen können, französisch, englisch, ita¬
lienisch — deutsch nicht zu vergessen.

Die Gefahr, welche in dem Überhandnehmen der Gleichgiltigkeit gegen die
politischen Fragen enthalten ist, wird natürlich geringer, wo die Staatseinrich¬
tungen fest und der Wille vorhanden ist, nicht daran rütteln zu lassen. Aber
den Franzosen fängt bereits an unheimlich zu werden. Ihnen dämmert die Er¬
innerung auf, daß sie vor beinahe vierzig Jahren schon eine ganz ähnliche Zeit
durchgemacht haben, als Monarchisten von der alten und von der neue»
Richtung, blaue und rote Republikaner sich herumbalgten, nicht merkten, daß
sie samt und sonders den Boden im Volke verloren hatten und daß der ver¬
spottete Held von Boulogne ihnen die Schlinge um den Hals legte. Wenn
nun heute in der dritten Stadt Frankreichs Anarchisten, Radikale und Bona¬
partisten einen der verruchtesten Unruhstifter zum Abgeordneten machen, die
nächstmeisten Stimmen ein Orleanist und nur halb so viele der Kandidat der
gemäßigten Republikaner erhält, in einem andern Departement mit offener
Verhöhnung des Gesetzes „der Saint-Arnaud des Vg.k6 elig-ntÄiit" auf den
Schild geschoben wird, so muß das allerdings den vernünftigen Leuten zu
denken geben, wie Herr Windthorst zu sagen liebt. Und doch ist die Sache so
klar. Während die Deputirten das Stürzen der Regierungen wie ein Gesell¬
schaftsspiel betrieben, haben sie sich selbst so vollständig um den Kredit gebracht,
daß alles nach einer Autorität lechzt, unter welchem Banner sie auch ihren
Einzug halten möge, und wiederum werden sie des Ernstes noch immer nicht
gewahr, agitiren und intriguiren für ihre bittersten Feinde, um nur nicht die


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[0106] In den Parlamentsferien. ehedem. Es darf sogar zugegeben werden, daß sich hie und da eine bedauer¬ liche Gleichgiltigkeit gegen die Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten überhaupt eingestellt hat. Bedauerlich, aber keineswegs unerklärlich. Denn von der eigentlichen, ernsten parlamentarischen Arbeit erfahren die Draußenstehenden viel weniger, als von den Leistungen der Redegewaltigen und der Witzlinge. Was wunder, wenn man sich in immer weiteren Kreisen gewöhnt, das Ganze als ein Schauspiel anzusehen, in welchem die Handelnden nur das eine Ziel vor Augen haben: den Beifall des geehrten Publikums auf den Galerien und des zeitmigslesenden zu erringen! Das ist im großen und ganzen ein Irrtum, und selbst diejenigen, welche man Komödianten nennen darf, Pflegen, mit ein¬ zelnen berühmten Ausnahmen, sich auf der Bühne oder Tribüne leider der¬ maßen zu erhitzen, daß sie für den Augenblick an den Ernst ihrer Worte glauben. Desto kränkender muß für sie die kühle Haltung des großen Publikums sein, welches ihnen zuruft: „Ereifert euch nicht! Euer Parteigezänk ist uns höchst gleichgiltig, eure Interessen sind nicht die unsern, wir wollen in Ruhe und Sicherheit unsern Geschäften nachgehen, und wer uns die Ruhe und Sicherheit verbürgt, ist unser Mann, heiße er Hinz oder Kunz, sei er auf dieses oder jenes Fraktionsprogramm eingeschworen." Auch das haben wir im Laufe des Winters in mancherlei Sprachen lesen können, französisch, englisch, ita¬ lienisch — deutsch nicht zu vergessen. Die Gefahr, welche in dem Überhandnehmen der Gleichgiltigkeit gegen die politischen Fragen enthalten ist, wird natürlich geringer, wo die Staatseinrich¬ tungen fest und der Wille vorhanden ist, nicht daran rütteln zu lassen. Aber den Franzosen fängt bereits an unheimlich zu werden. Ihnen dämmert die Er¬ innerung auf, daß sie vor beinahe vierzig Jahren schon eine ganz ähnliche Zeit durchgemacht haben, als Monarchisten von der alten und von der neue» Richtung, blaue und rote Republikaner sich herumbalgten, nicht merkten, daß sie samt und sonders den Boden im Volke verloren hatten und daß der ver¬ spottete Held von Boulogne ihnen die Schlinge um den Hals legte. Wenn nun heute in der dritten Stadt Frankreichs Anarchisten, Radikale und Bona¬ partisten einen der verruchtesten Unruhstifter zum Abgeordneten machen, die nächstmeisten Stimmen ein Orleanist und nur halb so viele der Kandidat der gemäßigten Republikaner erhält, in einem andern Departement mit offener Verhöhnung des Gesetzes „der Saint-Arnaud des Vg.k6 elig-ntÄiit" auf den Schild geschoben wird, so muß das allerdings den vernünftigen Leuten zu denken geben, wie Herr Windthorst zu sagen liebt. Und doch ist die Sache so klar. Während die Deputirten das Stürzen der Regierungen wie ein Gesell¬ schaftsspiel betrieben, haben sie sich selbst so vollständig um den Kredit gebracht, daß alles nach einer Autorität lechzt, unter welchem Banner sie auch ihren Einzug halten möge, und wiederum werden sie des Ernstes noch immer nicht gewahr, agitiren und intriguiren für ihre bittersten Feinde, um nur nicht die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/106>, abgerufen am 01.09.2024.