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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

selige Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unaussprechliche zu sagen,
sie sei im Vergleich zu der seelischen Musik dasselbe, was die Statue, die mit
den Händen gebildet, mit dem Meißel ausgehauen, mit dem Maße gemessen sei,
im Vergleich zu des Bildhauers wunderbarem Marmortraumc sei, den zu
schauen sterblichen Augen nicht vergönnt wird.

Übrigens war die Musik keineswegs das Hauptinteresse des Herrn Vigna;
er war vor allem Philosoph, nicht aber einer jener produktiven Philosophen,
welche neue Gesetze erfinden und Systeme bauen; er lachte über ihre Systeme,
diese Schneckenhäuser, die man über das unendliche Feld des Gedankens in dem
einfältigen Glauben mit sich herumschleppt, daß das, was sich im Innern des
Schneckenhauses befindet, das Feld sei. Und diese Gesetze! Gedankcngesetze,
Naturgesetze! als wäre ein Gesetz entdecken etwas andres als einen be¬
stimmten Ausdruck für das Bewußtsein finden, wie beschränkt man im Grunde
sei; so weit kann ich sehen und nicht weiter, das ist mein Horizont, das
und weiter nichts bedeutete die Entdeckung; denn war nicht ein neuer Horizont
hinter dem ersten, und ein neuer und abermals ein neuer, Horizont hinter
Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit hinein? Herr Bigum
war nicht auf diese Weise Philosoph. Er glaubte nicht, daß er eingebildet sei,
daß er sich selber überschätze, aber er konnte seine Augen nicht vor der That¬
sache verschließen, daß seine Intelligenz sich über weitere Felder erstreckte als
die andrer Sterblichen. Wenn er sich in die Werke der großen Denker ver¬
tiefte, so war es ihm, als bewege er sich zwischen einer Schar schlummernder
Gedankenriesen, die, vom Lichte seines Geistes überströmt, erwachten und ihrer
Stärke inne wurden. Und so war es mit allem: jeder fremde Gedanke, jede
Stimmung, jedes Gefühl, dem es vergönnt war, in ihm zu erwachen, das er¬
wachte mit seinem Stempel auf der Stirn, geadelt, geläutert, gestärkt zu neuem
Fluge, mit einer Große in sich, mit einer Macht an sich, von welcher der
Schöpfer desselben niemals geträumt hatte!

Wie oft hatte er nicht beinahe demütig gestaunt über diesen wunderbaren
Reichtum seiner Seele, über diese selbstbewußte, göttliche Ruhe seines Geistes,
denn es konnte Tage geben, an denen er die Welt und die Dinge in der Welt
von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und die
Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden von einander waren
wie Tag und Nacht, ohne daß diese Standpunkte und Voraussetzungen, die er
zu seinen eignen gemacht hatte, ihn jemals, auch nur auf eine Sekunde, zu ihrem
Eigentum gemacht hätten, ebenso wenig wie der Gott, welcher die Gestalt des
Stieres oder des Schwanes annahm, dadurch einen Augenblick zum Stier oder
Schwan ward und aufhörte Gott zu sein. (Fortsetzung folgt.)




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Gruuow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marq narr in Leipzig.
Ricks Lyhne.

selige Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unaussprechliche zu sagen,
sie sei im Vergleich zu der seelischen Musik dasselbe, was die Statue, die mit
den Händen gebildet, mit dem Meißel ausgehauen, mit dem Maße gemessen sei,
im Vergleich zu des Bildhauers wunderbarem Marmortraumc sei, den zu
schauen sterblichen Augen nicht vergönnt wird.

Übrigens war die Musik keineswegs das Hauptinteresse des Herrn Vigna;
er war vor allem Philosoph, nicht aber einer jener produktiven Philosophen,
welche neue Gesetze erfinden und Systeme bauen; er lachte über ihre Systeme,
diese Schneckenhäuser, die man über das unendliche Feld des Gedankens in dem
einfältigen Glauben mit sich herumschleppt, daß das, was sich im Innern des
Schneckenhauses befindet, das Feld sei. Und diese Gesetze! Gedankcngesetze,
Naturgesetze! als wäre ein Gesetz entdecken etwas andres als einen be¬
stimmten Ausdruck für das Bewußtsein finden, wie beschränkt man im Grunde
sei; so weit kann ich sehen und nicht weiter, das ist mein Horizont, das
und weiter nichts bedeutete die Entdeckung; denn war nicht ein neuer Horizont
hinter dem ersten, und ein neuer und abermals ein neuer, Horizont hinter
Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit hinein? Herr Bigum
war nicht auf diese Weise Philosoph. Er glaubte nicht, daß er eingebildet sei,
daß er sich selber überschätze, aber er konnte seine Augen nicht vor der That¬
sache verschließen, daß seine Intelligenz sich über weitere Felder erstreckte als
die andrer Sterblichen. Wenn er sich in die Werke der großen Denker ver¬
tiefte, so war es ihm, als bewege er sich zwischen einer Schar schlummernder
Gedankenriesen, die, vom Lichte seines Geistes überströmt, erwachten und ihrer
Stärke inne wurden. Und so war es mit allem: jeder fremde Gedanke, jede
Stimmung, jedes Gefühl, dem es vergönnt war, in ihm zu erwachen, das er¬
wachte mit seinem Stempel auf der Stirn, geadelt, geläutert, gestärkt zu neuem
Fluge, mit einer Große in sich, mit einer Macht an sich, von welcher der
Schöpfer desselben niemals geträumt hatte!

Wie oft hatte er nicht beinahe demütig gestaunt über diesen wunderbaren
Reichtum seiner Seele, über diese selbstbewußte, göttliche Ruhe seines Geistes,
denn es konnte Tage geben, an denen er die Welt und die Dinge in der Welt
von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und die
Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden von einander waren
wie Tag und Nacht, ohne daß diese Standpunkte und Voraussetzungen, die er
zu seinen eignen gemacht hatte, ihn jemals, auch nur auf eine Sekunde, zu ihrem
Eigentum gemacht hätten, ebenso wenig wie der Gott, welcher die Gestalt des
Stieres oder des Schwanes annahm, dadurch einen Augenblick zum Stier oder
Schwan ward und aufhörte Gott zu sein. (Fortsetzung folgt.)




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Gruuow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marq narr in Leipzig.
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[0104] Ricks Lyhne. selige Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unaussprechliche zu sagen, sie sei im Vergleich zu der seelischen Musik dasselbe, was die Statue, die mit den Händen gebildet, mit dem Meißel ausgehauen, mit dem Maße gemessen sei, im Vergleich zu des Bildhauers wunderbarem Marmortraumc sei, den zu schauen sterblichen Augen nicht vergönnt wird. Übrigens war die Musik keineswegs das Hauptinteresse des Herrn Vigna; er war vor allem Philosoph, nicht aber einer jener produktiven Philosophen, welche neue Gesetze erfinden und Systeme bauen; er lachte über ihre Systeme, diese Schneckenhäuser, die man über das unendliche Feld des Gedankens in dem einfältigen Glauben mit sich herumschleppt, daß das, was sich im Innern des Schneckenhauses befindet, das Feld sei. Und diese Gesetze! Gedankcngesetze, Naturgesetze! als wäre ein Gesetz entdecken etwas andres als einen be¬ stimmten Ausdruck für das Bewußtsein finden, wie beschränkt man im Grunde sei; so weit kann ich sehen und nicht weiter, das ist mein Horizont, das und weiter nichts bedeutete die Entdeckung; denn war nicht ein neuer Horizont hinter dem ersten, und ein neuer und abermals ein neuer, Horizont hinter Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit hinein? Herr Bigum war nicht auf diese Weise Philosoph. Er glaubte nicht, daß er eingebildet sei, daß er sich selber überschätze, aber er konnte seine Augen nicht vor der That¬ sache verschließen, daß seine Intelligenz sich über weitere Felder erstreckte als die andrer Sterblichen. Wenn er sich in die Werke der großen Denker ver¬ tiefte, so war es ihm, als bewege er sich zwischen einer Schar schlummernder Gedankenriesen, die, vom Lichte seines Geistes überströmt, erwachten und ihrer Stärke inne wurden. Und so war es mit allem: jeder fremde Gedanke, jede Stimmung, jedes Gefühl, dem es vergönnt war, in ihm zu erwachen, das er¬ wachte mit seinem Stempel auf der Stirn, geadelt, geläutert, gestärkt zu neuem Fluge, mit einer Große in sich, mit einer Macht an sich, von welcher der Schöpfer desselben niemals geträumt hatte! Wie oft hatte er nicht beinahe demütig gestaunt über diesen wunderbaren Reichtum seiner Seele, über diese selbstbewußte, göttliche Ruhe seines Geistes, denn es konnte Tage geben, an denen er die Welt und die Dinge in der Welt von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und die Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden von einander waren wie Tag und Nacht, ohne daß diese Standpunkte und Voraussetzungen, die er zu seinen eignen gemacht hatte, ihn jemals, auch nur auf eine Sekunde, zu ihrem Eigentum gemacht hätten, ebenso wenig wie der Gott, welcher die Gestalt des Stieres oder des Schwanes annahm, dadurch einen Augenblick zum Stier oder Schwan ward und aufhörte Gott zu sein. (Fortsetzung folgt.) Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Gruuow in Leipzig. Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marq narr in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/104>, abgerufen am 01.09.2024.