Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Ricks Lyhne. Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf Ricks Lyhne. Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0103" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202880"/> <fw type="header" place="top"> Ricks Lyhne.</fw><lb/> <p xml:id="ID_316" prev="#ID_315"> Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und<lb/> Gedanken, eigne wie fremde, ergriff Menschen und Begebenheiten, Leben und<lb/> Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das<lb/> neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Ver¬<lb/> steck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein<lb/> Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ<lb/> in seine ganze Herrlichkeit, der alle andern ausschloß. Von oben war dieser<lb/> Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus<lb/> Sonne und Blättern auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich<lb/> tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg<lb/> ein, so gelangte man hierhin, und auf dem andern gelangte man dorthin — zu<lb/> Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Ricks<lb/> Kliu und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus — und sobald<lb/> man es nnr wünschte, war man wieder daheim.</p><lb/> <p xml:id="ID_317"> Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue<lb/> Gesichter auf Lönborggaard erschienen.</p><lb/> <p xml:id="ID_318"> Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele<lb/> Lyhne.</p><lb/> <p xml:id="ID_319" next="#ID_320"> Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf<lb/> der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem<lb/> Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang,<lb/> die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer<lb/> und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und er¬<lb/> forderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war<lb/> mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine<lb/> Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die<lb/> Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das<lb/> schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den<lb/> Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig<lb/> war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leiden¬<lb/> schaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht<lb/> mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die<lb/> Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand<lb/> den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und<lb/> schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnaden¬<lb/> gabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares In¬<lb/> strument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Nalebaß-<lb/> violine der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen<lb/> Saiten erklangen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter<lb/> ihre unsterblichen Werke komponirt. Die äußerliche Musik, die die Luft der<lb/> Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine arm-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0103]
Ricks Lyhne.
Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und
Gedanken, eigne wie fremde, ergriff Menschen und Begebenheiten, Leben und
Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das
neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Ver¬
steck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein
Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ
in seine ganze Herrlichkeit, der alle andern ausschloß. Von oben war dieser
Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus
Sonne und Blättern auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich
tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg
ein, so gelangte man hierhin, und auf dem andern gelangte man dorthin — zu
Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Ricks
Kliu und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus — und sobald
man es nnr wünschte, war man wieder daheim.
Ungefähr einen Monat nach Ricks' zwölften Geburtstage waren zwei neue
Gesichter auf Lönborggaard erschienen.
Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andre gehörte Edele
Lyhne.
Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf
der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem
Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang,
die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer
und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und er¬
forderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war
mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine
Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die
Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das
schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den
Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig
war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leiden¬
schaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht
mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die
Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand
den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und
schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnaden¬
gabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares In¬
strument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Nalebaß-
violine der Wilden sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen
Saiten erklangen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter
ihre unsterblichen Werke komponirt. Die äußerliche Musik, die die Luft der
Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine arm-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |