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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

neuen Versen folgen zu lassen. Dieses "verkürzte Melodram" auf die Bühne
zu bringen, könnte Wohl einen Tonsetzer reizen; wenigstens würde er sich durch
keine Willkür am Dichter versündigen. Wir scheiden von Schmidt mit Dank für
die reichen Mitteilungen, wenn wir auch gegen seine Textgestaltung manches
zu erinnern fanden, ja sie nicht für einen wesentlichen Fortschritt halten können.

Auch der drei Bände der "Tagebücher" und der "Briefe" können wir nnr
kurz gedenken. Der Band der "Tagebücher" beginnt mit der Schweizerreise von
1775, das eine weinheitere Strophe, die erste Fassung des Liedes "Ans dem
See," des Grußes an Lili, und der später umgestaltete", "Hoffnung" überschrie-
benen Verse enthält. Warum letztere hier nicht abgedruckt sind, verstehe ich
nicht. Meine Vermutung, daß Riemer die Zeitbestimmung dieser Verse hieraus
genommen habe, hat sich bestätigt. Manches macht das kleine Oktavheftchen an¬
ziehend; einzelnes bleibt rätselhaft. Die Reiscangabe ist in "Wahrheit und Dich¬
tung" fast wörtlich benutzt. Darauf folgt der bekannte Anfang eines Neisetagebnchs
aus Eberstadt und Weinheim vom 30. Oktober 1775. Der durch so viele Mit¬
teilungen verdiente Archivrat Burkhardt hat die bisher nur aus schlechten Ab¬
schriften nachlässig herausgegebenen Weimarer Tagebücher vom März 1778 bis
1782 nach sorgfältiger Vergleichung der Urschrift gegeben, sodaß wir meist eine
feste Grundlage erhalten, während wir früher auf oft sehr kühne Vermutungen
angewiesen waren, wenn auch das Bedeutendste längst richtig herausgefunden
ist. Da auf alle Erläuterungen verzichtet werden mußte, nur die Namen der
durch Planeten bezeichneten Personen und die "abgekürzten oder inkorrekten Namen
und andre nicht sogleich verständliche Wortbilder (?)", leider nicht vollständig
und genan, angegeben sind, so ist vieles dem nicht mit den Verhältnissen ver¬
trauten unverständlich oder verleitet gar zu Mißverständnissen. Auch jetzt bleibt
manches noch zweifelhaft, andres ist verfehlt. Erst neuerdings wurde eine genaue
Angabe über den Wörlitzer Aufenthalt vom Dezember 1776 in das Tagebuch
eingelegt. Zur Schweizerreise sind einige unbekannte Blätter benutzt. Es war
nicht zu vermeiden, daß das neuerdings im zweiten Bande der Schriften der
Goethegesellschast gegebene umfangreiche Tagebuch an Frau von Stein, das von
Karlsbad bis Rom reicht, hier wieder abgedruckt wurde. Einzelne Druckfehler
wurden diesmal verbessert, aber nicht alle. Den Schluß bilden die gleichfalls
schon bekannten Aufzeichnungen vom März bis zum Mai 1787.

Bedenklich scheint uns die Herausgabe sämtlicher vorhandenen Briefe nach
der Zeitfolge. Ich weiß, daß Goethe selbst sich im Januar 1831 für Ecker¬
manns Plan einer "gemischten Ausgabe" nach Jahren erklärte, und erkenne die
dafür angeführten Gründe in ihrem Werte an; aber Eckermann urteilte bloß
nach Einsicht der Briefe von 1807 bis 1809. Schon die gleiche Zusammen¬
stellung im "Jungen Goethe" habe ich nie für zweckmäßig halten können, ob¬
gleich wir dort neben den Briefen alle gleichzeitigen dichterischen Erzeugnisse
erhalten, und die Zahl der Briefe in den Jahren bis 1775 viel beschränkter ist.


Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

neuen Versen folgen zu lassen. Dieses „verkürzte Melodram" auf die Bühne
zu bringen, könnte Wohl einen Tonsetzer reizen; wenigstens würde er sich durch
keine Willkür am Dichter versündigen. Wir scheiden von Schmidt mit Dank für
die reichen Mitteilungen, wenn wir auch gegen seine Textgestaltung manches
zu erinnern fanden, ja sie nicht für einen wesentlichen Fortschritt halten können.

Auch der drei Bände der „Tagebücher" und der „Briefe" können wir nnr
kurz gedenken. Der Band der „Tagebücher" beginnt mit der Schweizerreise von
1775, das eine weinheitere Strophe, die erste Fassung des Liedes „Ans dem
See," des Grußes an Lili, und der später umgestaltete», „Hoffnung" überschrie-
benen Verse enthält. Warum letztere hier nicht abgedruckt sind, verstehe ich
nicht. Meine Vermutung, daß Riemer die Zeitbestimmung dieser Verse hieraus
genommen habe, hat sich bestätigt. Manches macht das kleine Oktavheftchen an¬
ziehend; einzelnes bleibt rätselhaft. Die Reiscangabe ist in „Wahrheit und Dich¬
tung" fast wörtlich benutzt. Darauf folgt der bekannte Anfang eines Neisetagebnchs
aus Eberstadt und Weinheim vom 30. Oktober 1775. Der durch so viele Mit¬
teilungen verdiente Archivrat Burkhardt hat die bisher nur aus schlechten Ab¬
schriften nachlässig herausgegebenen Weimarer Tagebücher vom März 1778 bis
1782 nach sorgfältiger Vergleichung der Urschrift gegeben, sodaß wir meist eine
feste Grundlage erhalten, während wir früher auf oft sehr kühne Vermutungen
angewiesen waren, wenn auch das Bedeutendste längst richtig herausgefunden
ist. Da auf alle Erläuterungen verzichtet werden mußte, nur die Namen der
durch Planeten bezeichneten Personen und die „abgekürzten oder inkorrekten Namen
und andre nicht sogleich verständliche Wortbilder (?)", leider nicht vollständig
und genan, angegeben sind, so ist vieles dem nicht mit den Verhältnissen ver¬
trauten unverständlich oder verleitet gar zu Mißverständnissen. Auch jetzt bleibt
manches noch zweifelhaft, andres ist verfehlt. Erst neuerdings wurde eine genaue
Angabe über den Wörlitzer Aufenthalt vom Dezember 1776 in das Tagebuch
eingelegt. Zur Schweizerreise sind einige unbekannte Blätter benutzt. Es war
nicht zu vermeiden, daß das neuerdings im zweiten Bande der Schriften der
Goethegesellschast gegebene umfangreiche Tagebuch an Frau von Stein, das von
Karlsbad bis Rom reicht, hier wieder abgedruckt wurde. Einzelne Druckfehler
wurden diesmal verbessert, aber nicht alle. Den Schluß bilden die gleichfalls
schon bekannten Aufzeichnungen vom März bis zum Mai 1787.

Bedenklich scheint uns die Herausgabe sämtlicher vorhandenen Briefe nach
der Zeitfolge. Ich weiß, daß Goethe selbst sich im Januar 1831 für Ecker¬
manns Plan einer „gemischten Ausgabe" nach Jahren erklärte, und erkenne die
dafür angeführten Gründe in ihrem Werte an; aber Eckermann urteilte bloß
nach Einsicht der Briefe von 1807 bis 1809. Schon die gleiche Zusammen¬
stellung im „Jungen Goethe" habe ich nie für zweckmäßig halten können, ob¬
gleich wir dort neben den Briefen alle gleichzeitigen dichterischen Erzeugnisse
erhalten, und die Zahl der Briefe in den Jahren bis 1775 viel beschränkter ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/99>, abgerufen am 27.06.2024.