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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Literatur.

oder unbewußt, seinen Tribut zu leisten, mit dem er sich, wie es bei Greinz
sicherlich geschehen wird, zugleich für immer von ihrer Herrschaft loskauft; dann
wird er seiue eignen Wege gehen. Naturalistisch ist die Geschichte von Greinz
zunächst darin, daß sie eben eine Geschichte "armer" Leute ist. Die Armut ist
freilich für den Ausgang der Handlung nicht die eigentliche Ursache; aber dieses
Vertiefen in die Leiden der Armut, das Ausmalen und die Anklagen derselben,
die Parteinahme für sie gegen alle strenge Moralfordcrung, das ist recht natura¬
listisch. Ebenso die Wahl des Motivs: eines Ehebruchs. Deu Anfänger (aber doch
auch wieder das Talent, denn er fesselt trotzdem den Leser) erkennt man an der
schlichten Erfindung, welche mit einer einzigen spannenden Verzögerung, die hier
gewiß einen poetischen Kern besitzt, die verbotene Liebe des aus der rechten Bahn
gekommenen Studenten und armen Notarschreibers Otfried zu der nicht minder
armen Frau Margitta des Oberschreibers Peters, bei dem er wohnt, darstellt. Es
ist eine unsäglich einfache und traurige Geschichte, die einen tragischen Anlauf dort
nimmt, wo Otfried in die Versuchung kommt, die Folgen einer Sünde mit Mar¬
gitta, noch bevor sie sichtbar werden, zu töten -- er besiegt aber die Versuchung
und erfährt, daß Margitta ebenso mit ihr kämpfte. Die Geschichte läuft aber
sentimental aus: die schwergeprüfte Ehebrecherin stirbt im Wochenbett. Gelviß wird
ihr kein Mensch einen Stein nachwerfen: sie hat es, gar zu traurig gehabt. Ihr
Gatte bleibt während der ganzen Geschichte im Hintergrunde, oder richtiger im
Wirtshaus. Wenn Greiuz bei diesem Unglück die Armut als Schuldträgerin an¬
klagt, so ist er nicht im Rechte: der gleiche Zufall, der Margitta in die unglückliche
Ehe mit dem rohen und ungeliebten Peters trieb, hätte sie einen bessern Mann
finden lassen können; und keine Reichtümer der Welt hätten sie vor dem Tode
retten können, wenn es ihr im Kindbett zu sterben schon physisch vorherbestimmt
war. Allein diese und andre Mängel der Erfindung (auch Fehler gegen die Wahr¬
scheinlichkeit) rechnen wir dem jungen und zweifellos begabten Dichter nicht zu
schwer an. In der warmen Schilderung des Liebesglücks, in der gelungenen Cha¬
rakteristik des uach mehrjähriger Ehe spät zur Liebe erwachenden Weibes, in der
Innigkeit alles Gefühls, in dem von guten und edeln Betrachtungen durchwobenen
Stile der Erzählung (die Dialogführung ist von überraschender Gewandtheit) in
seiner Neigung zum bildlichen Ausdruck, in seineu, wenn auch Dickens nachempfun¬
denen, doch mit gefälligem Humor skizzirten Nebengestalten, in den vielen anschau¬
lichen Schilderungen -- in alledem hat Greinz eine sehr beachtenswerte Talent¬
probe abgelegt. In einer zweiten Geschichte wird er auch hoffentlich das Lokal
seiner Handlung bestimmter zeichnen und nicht, wie diesmal, in altidealistischer Weise
es ganz allgemein schildern. Das fällt ganz aus dem Stile des übrigen heraus.
M. N. _








Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig.
Literatur.

oder unbewußt, seinen Tribut zu leisten, mit dem er sich, wie es bei Greinz
sicherlich geschehen wird, zugleich für immer von ihrer Herrschaft loskauft; dann
wird er seiue eignen Wege gehen. Naturalistisch ist die Geschichte von Greinz
zunächst darin, daß sie eben eine Geschichte „armer" Leute ist. Die Armut ist
freilich für den Ausgang der Handlung nicht die eigentliche Ursache; aber dieses
Vertiefen in die Leiden der Armut, das Ausmalen und die Anklagen derselben,
die Parteinahme für sie gegen alle strenge Moralfordcrung, das ist recht natura¬
listisch. Ebenso die Wahl des Motivs: eines Ehebruchs. Deu Anfänger (aber doch
auch wieder das Talent, denn er fesselt trotzdem den Leser) erkennt man an der
schlichten Erfindung, welche mit einer einzigen spannenden Verzögerung, die hier
gewiß einen poetischen Kern besitzt, die verbotene Liebe des aus der rechten Bahn
gekommenen Studenten und armen Notarschreibers Otfried zu der nicht minder
armen Frau Margitta des Oberschreibers Peters, bei dem er wohnt, darstellt. Es
ist eine unsäglich einfache und traurige Geschichte, die einen tragischen Anlauf dort
nimmt, wo Otfried in die Versuchung kommt, die Folgen einer Sünde mit Mar¬
gitta, noch bevor sie sichtbar werden, zu töten — er besiegt aber die Versuchung
und erfährt, daß Margitta ebenso mit ihr kämpfte. Die Geschichte läuft aber
sentimental aus: die schwergeprüfte Ehebrecherin stirbt im Wochenbett. Gelviß wird
ihr kein Mensch einen Stein nachwerfen: sie hat es, gar zu traurig gehabt. Ihr
Gatte bleibt während der ganzen Geschichte im Hintergrunde, oder richtiger im
Wirtshaus. Wenn Greiuz bei diesem Unglück die Armut als Schuldträgerin an¬
klagt, so ist er nicht im Rechte: der gleiche Zufall, der Margitta in die unglückliche
Ehe mit dem rohen und ungeliebten Peters trieb, hätte sie einen bessern Mann
finden lassen können; und keine Reichtümer der Welt hätten sie vor dem Tode
retten können, wenn es ihr im Kindbett zu sterben schon physisch vorherbestimmt
war. Allein diese und andre Mängel der Erfindung (auch Fehler gegen die Wahr¬
scheinlichkeit) rechnen wir dem jungen und zweifellos begabten Dichter nicht zu
schwer an. In der warmen Schilderung des Liebesglücks, in der gelungenen Cha¬
rakteristik des uach mehrjähriger Ehe spät zur Liebe erwachenden Weibes, in der
Innigkeit alles Gefühls, in dem von guten und edeln Betrachtungen durchwobenen
Stile der Erzählung (die Dialogführung ist von überraschender Gewandtheit) in
seiner Neigung zum bildlichen Ausdruck, in seineu, wenn auch Dickens nachempfun¬
denen, doch mit gefälligem Humor skizzirten Nebengestalten, in den vielen anschau¬
lichen Schilderungen — in alledem hat Greinz eine sehr beachtenswerte Talent¬
probe abgelegt. In einer zweiten Geschichte wird er auch hoffentlich das Lokal
seiner Handlung bestimmter zeichnen und nicht, wie diesmal, in altidealistischer Weise
es ganz allgemein schildern. Das fällt ganz aus dem Stile des übrigen heraus.
M. N. _








Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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[0064] Literatur. oder unbewußt, seinen Tribut zu leisten, mit dem er sich, wie es bei Greinz sicherlich geschehen wird, zugleich für immer von ihrer Herrschaft loskauft; dann wird er seiue eignen Wege gehen. Naturalistisch ist die Geschichte von Greinz zunächst darin, daß sie eben eine Geschichte „armer" Leute ist. Die Armut ist freilich für den Ausgang der Handlung nicht die eigentliche Ursache; aber dieses Vertiefen in die Leiden der Armut, das Ausmalen und die Anklagen derselben, die Parteinahme für sie gegen alle strenge Moralfordcrung, das ist recht natura¬ listisch. Ebenso die Wahl des Motivs: eines Ehebruchs. Deu Anfänger (aber doch auch wieder das Talent, denn er fesselt trotzdem den Leser) erkennt man an der schlichten Erfindung, welche mit einer einzigen spannenden Verzögerung, die hier gewiß einen poetischen Kern besitzt, die verbotene Liebe des aus der rechten Bahn gekommenen Studenten und armen Notarschreibers Otfried zu der nicht minder armen Frau Margitta des Oberschreibers Peters, bei dem er wohnt, darstellt. Es ist eine unsäglich einfache und traurige Geschichte, die einen tragischen Anlauf dort nimmt, wo Otfried in die Versuchung kommt, die Folgen einer Sünde mit Mar¬ gitta, noch bevor sie sichtbar werden, zu töten — er besiegt aber die Versuchung und erfährt, daß Margitta ebenso mit ihr kämpfte. Die Geschichte läuft aber sentimental aus: die schwergeprüfte Ehebrecherin stirbt im Wochenbett. Gelviß wird ihr kein Mensch einen Stein nachwerfen: sie hat es, gar zu traurig gehabt. Ihr Gatte bleibt während der ganzen Geschichte im Hintergrunde, oder richtiger im Wirtshaus. Wenn Greiuz bei diesem Unglück die Armut als Schuldträgerin an¬ klagt, so ist er nicht im Rechte: der gleiche Zufall, der Margitta in die unglückliche Ehe mit dem rohen und ungeliebten Peters trieb, hätte sie einen bessern Mann finden lassen können; und keine Reichtümer der Welt hätten sie vor dem Tode retten können, wenn es ihr im Kindbett zu sterben schon physisch vorherbestimmt war. Allein diese und andre Mängel der Erfindung (auch Fehler gegen die Wahr¬ scheinlichkeit) rechnen wir dem jungen und zweifellos begabten Dichter nicht zu schwer an. In der warmen Schilderung des Liebesglücks, in der gelungenen Cha¬ rakteristik des uach mehrjähriger Ehe spät zur Liebe erwachenden Weibes, in der Innigkeit alles Gefühls, in dem von guten und edeln Betrachtungen durchwobenen Stile der Erzählung (die Dialogführung ist von überraschender Gewandtheit) in seiner Neigung zum bildlichen Ausdruck, in seineu, wenn auch Dickens nachempfun¬ denen, doch mit gefälligem Humor skizzirten Nebengestalten, in den vielen anschau¬ lichen Schilderungen — in alledem hat Greinz eine sehr beachtenswerte Talent¬ probe abgelegt. In einer zweiten Geschichte wird er auch hoffentlich das Lokal seiner Handlung bestimmter zeichnen und nicht, wie diesmal, in altidealistischer Weise es ganz allgemein schildern. Das fällt ganz aus dem Stile des übrigen heraus. M. N. _ Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/64>, abgerufen am 28.09.2024.