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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Nie Ideen von l.7"9.

vvrrcchtetcn Stand sein? Alles, aber ein freies, blühendes Alles. Nichts kann
ohne ihn gehen, alles würde viel besser gehen ohne die andern. Man macht
geschichtliche Rechte geltend und beruft sich auf die Eroberung. Nun, wenn
die Eroberung den Adel macht, so trete der dritte Stand erobernd ans, und er
wird Mich werden. Aber vielleicht ist Anwendung von Gewalt gar nicht er¬
forderlich, um den dritten Stand zum alles umfassenden zu machen. Warum
sollte nicht einmal die Vernunft und die Gerechtigkeit ebenso stark als die Eitel¬
keit auf die Bevorrechteten wirken und sie dahin bringen, aus einem neuen,
aber wahreren gesellschaftlichen Interesse ihre Wiederaufnahme in den dritten
Stand zu verlangen? Die Vorrechte sind teilweise Rechte, welche dem ganzen
Volke gehören, ihm aber zu Gunsten einzelner entzogen sind (wie z. B. die
Patrimonialgerichtsbarkeit). Hier handelt es sich also nicht um Abschaffung von
Rechten, sondern um Wiedereinsetzung von Berechtigten, um das wichtigste aller
Gesetze vorzubereiten, nämlich dasjenige, welches alle Stände in eine Nation
umschaffen wird. Die Zeitanschauung von der Unzulässigkeit des Unterschiedes
und Gegensatzes der Stände wird besonders durch nachfolgende Stelle in der
Schrift des Abbe Sieyes bezeichnet: "Wenn man im dritten Stande Spaltungen
verursachen will, so bringt man die verschiednen Klassen desselben gegen einander
ans; man verhetzt die Bewohner des Landes gegen die der Städte, man sucht
die Armen den Reichen entgegenzusetzen. Ihr bemüht euch vergebens: weder die
Verschiedenheit der Gewerbe, noch der Glücksgüter, noch der Bildung, sondern
die Verschiedenheit des Interesses trennt die Menschen. Im gegenwärtigen
Augenblick stehen sich nur zwei Arten von Interesse gegenüber, das der Be¬
vorrechteten und das der Nichtbevorrechteten. Alle Klassen des dritten Standes
sind durch das gemeinsame Interesse gegen die Bedrückungen der Bevorrechteten
vereinigt."

Was das Verhältnis der Nation zur Verfassung, Gesetzgebung und Ne¬
gierung betrifft, so sind folgende Äußerungen bemerkenswert. Die Nation
besteht vor allem andern, sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist
immer gesetzlich, er ist das Gesetz selbst. Den gesellschaftlichen Vertrag kann
man nicht anders verstehen: er verbindet die Verbundnen unter einander. Es
ist eine falsche und gefährliche Idee, einen Vertrag zwischen einem Volle und
seiner Negierung anzunehmen. Die Nation macht keinen Vertrag mit ihren
Beamten, sie überträgt nur die Ausübung ihrer Gewalten.

Hiermit ist allerdings mit den deutlichsten Worten das ausgesprochen, was
Stahl das System der Revolution nennt, die Umkehrung des Herrscherverhült-
nisscs, wonach das Volk leine aus eignem Rechte bestehende Autorität irgend-
welcher Art über sich erkennt, sondern über alle staatlichen Obrigkeiten seinen
eignen Willen setzt, mit andern Worten: den Begriff der Obrigkeit vernichtet,
indem in letzter Instanz die Mehrheit der Verwalteten die öffentlichen Dinge
mit souveränem Willen ordnet nach Maßgabe der jeweiligen Regungen dieses


Nie Ideen von l.7«9.

vvrrcchtetcn Stand sein? Alles, aber ein freies, blühendes Alles. Nichts kann
ohne ihn gehen, alles würde viel besser gehen ohne die andern. Man macht
geschichtliche Rechte geltend und beruft sich auf die Eroberung. Nun, wenn
die Eroberung den Adel macht, so trete der dritte Stand erobernd ans, und er
wird Mich werden. Aber vielleicht ist Anwendung von Gewalt gar nicht er¬
forderlich, um den dritten Stand zum alles umfassenden zu machen. Warum
sollte nicht einmal die Vernunft und die Gerechtigkeit ebenso stark als die Eitel¬
keit auf die Bevorrechteten wirken und sie dahin bringen, aus einem neuen,
aber wahreren gesellschaftlichen Interesse ihre Wiederaufnahme in den dritten
Stand zu verlangen? Die Vorrechte sind teilweise Rechte, welche dem ganzen
Volke gehören, ihm aber zu Gunsten einzelner entzogen sind (wie z. B. die
Patrimonialgerichtsbarkeit). Hier handelt es sich also nicht um Abschaffung von
Rechten, sondern um Wiedereinsetzung von Berechtigten, um das wichtigste aller
Gesetze vorzubereiten, nämlich dasjenige, welches alle Stände in eine Nation
umschaffen wird. Die Zeitanschauung von der Unzulässigkeit des Unterschiedes
und Gegensatzes der Stände wird besonders durch nachfolgende Stelle in der
Schrift des Abbe Sieyes bezeichnet: „Wenn man im dritten Stande Spaltungen
verursachen will, so bringt man die verschiednen Klassen desselben gegen einander
ans; man verhetzt die Bewohner des Landes gegen die der Städte, man sucht
die Armen den Reichen entgegenzusetzen. Ihr bemüht euch vergebens: weder die
Verschiedenheit der Gewerbe, noch der Glücksgüter, noch der Bildung, sondern
die Verschiedenheit des Interesses trennt die Menschen. Im gegenwärtigen
Augenblick stehen sich nur zwei Arten von Interesse gegenüber, das der Be¬
vorrechteten und das der Nichtbevorrechteten. Alle Klassen des dritten Standes
sind durch das gemeinsame Interesse gegen die Bedrückungen der Bevorrechteten
vereinigt."

Was das Verhältnis der Nation zur Verfassung, Gesetzgebung und Ne¬
gierung betrifft, so sind folgende Äußerungen bemerkenswert. Die Nation
besteht vor allem andern, sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist
immer gesetzlich, er ist das Gesetz selbst. Den gesellschaftlichen Vertrag kann
man nicht anders verstehen: er verbindet die Verbundnen unter einander. Es
ist eine falsche und gefährliche Idee, einen Vertrag zwischen einem Volle und
seiner Negierung anzunehmen. Die Nation macht keinen Vertrag mit ihren
Beamten, sie überträgt nur die Ausübung ihrer Gewalten.

Hiermit ist allerdings mit den deutlichsten Worten das ausgesprochen, was
Stahl das System der Revolution nennt, die Umkehrung des Herrscherverhült-
nisscs, wonach das Volk leine aus eignem Rechte bestehende Autorität irgend-
welcher Art über sich erkennt, sondern über alle staatlichen Obrigkeiten seinen
eignen Willen setzt, mit andern Worten: den Begriff der Obrigkeit vernichtet,
indem in letzter Instanz die Mehrheit der Verwalteten die öffentlichen Dinge
mit souveränem Willen ordnet nach Maßgabe der jeweiligen Regungen dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/637>, abgerufen am 28.09.2024.