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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von ^789-

halten, da jeder so frei ist wie der andre. Darum kann der Staat nnr durch
die freie Einwilligung aller, nur durch Vertrag aller zu stände kommen. Nur
durch Vertrag kann der Staat gleich jeder andern Gesellschaft giltig errichtet,
nur durch Vertrag kann die Obrigkeit desselben giltig bestellt werden. Wenn
nun auch in der Geschichte Staat und Obrigkeit nicht durch Vertrag entstanden
sind, so kann doch ihr Recht nur aus stillschweigendem Vertrage der Unter¬
thanen hergeleitet und nur nach ihr bemessen werden.

Auf diesen Grundgedanken, wie sie nach Grotius noch besonders durch
Hobbes, Pufendorf. Thomasius, Wolfs und Kant, also nicht vorzugsweise durch
französische Denker entwickelt worden sind, ruht die gesamte rechtsphilosophische
Anschauungsweise des achtzehnten Jahrhunderts, des sisvls ach lumiörss, der
Aufklärungsperiode, ruhen auch die "Ideen von 1789." Diese letztern haben
freilich ein Element in sich aufgenommen, welches wesentlich französisch ist. Das
ist Rousseaus Lehre von der Unvcränßerlichkeit der Freiheit. Bis dahin lehrte
man: Die Menschen sind frei, aber sie können ihre Freiheit veräußern. Die
Menschen sind keiner Autorität unterworfen, aber sie können sich, vertrags¬
mäßig, einer Autorität unterwerfen. Rousseau dagegen lehrt: Nein, die Frei¬
heit ist ein unveräußerliches Recht, ebenso wie das Leben. Über sie giebt es
keine Verfügung. Die Menschen können ihre Freiheit nicht veräußern, können
sich keiner Autorität, auch nicht vertragsmäßig, unterwerfen. So wenig als sie
durch Vertrag sich rechtmäßig in Sklaverei verkaufen können, ebensowenig
können sie durch Vertrag sich rechtmäßig einer politischen Gewalt oder einem
politischen Vorrecht unterwerfen. Sie müssen ihre Freiheit ungeschmälert er¬
halten wie ihr Leben. Aus dieser Lehre von der unveräußerlichen Freiheit fol¬
gert Rousseau denkrichtig drei Grundsätze: Die Unübertragbarkeit der Volks¬
gewalt, die Unumschränktheit der Volksgewalt und die unbedingte Gleichheit
aller. Diese drei Sätze zusammen bilden den vollen Gedanken der Volkssouve¬
ränität; mit ihnen ist das System Rousseaus erschöpft. Er verkündet aber
die Volkssouveränität nicht etwa als politisches Ideal und Ziel, sondern als
Rechtsgrundsatz. Sie ist das unvertilgbare Recht der Natur und gilt darum
überall gleichmäßig -- in Frankreich, England und der Türkei -- und gilt
überall von selbst, braucht uicht erst eingeführt zu werden. Was anders be¬
steht, ist unrechtmäßig und nichtig; das Volk braucht nur das Recht, das es
bereits hat, auszuüben.

Nach der herrschenden Meinung von 1789 war jetzt der Augenblick ge¬
kommen, wo das Volk berufen war, das ihm von Rousseau zugesprochene
Souveränitätsrccht thatsächlich auszuüben. Die praktische Durchführung der
Rousseauschen Ideen machte einige Abweichungen davon notwendig, wie z. B.
die Zulassung einer Volksvertretung, welche von Jean Jacques, als dein
Grundsätze der Nichtveräußerung der Gewalt widerstreitend, ausdrücklich ver¬
worfen worden war. Über die Frage der Durchführbarkeit seiner Ideen hatte


Die Ideen von ^789-

halten, da jeder so frei ist wie der andre. Darum kann der Staat nnr durch
die freie Einwilligung aller, nur durch Vertrag aller zu stände kommen. Nur
durch Vertrag kann der Staat gleich jeder andern Gesellschaft giltig errichtet,
nur durch Vertrag kann die Obrigkeit desselben giltig bestellt werden. Wenn
nun auch in der Geschichte Staat und Obrigkeit nicht durch Vertrag entstanden
sind, so kann doch ihr Recht nur aus stillschweigendem Vertrage der Unter¬
thanen hergeleitet und nur nach ihr bemessen werden.

Auf diesen Grundgedanken, wie sie nach Grotius noch besonders durch
Hobbes, Pufendorf. Thomasius, Wolfs und Kant, also nicht vorzugsweise durch
französische Denker entwickelt worden sind, ruht die gesamte rechtsphilosophische
Anschauungsweise des achtzehnten Jahrhunderts, des sisvls ach lumiörss, der
Aufklärungsperiode, ruhen auch die „Ideen von 1789." Diese letztern haben
freilich ein Element in sich aufgenommen, welches wesentlich französisch ist. Das
ist Rousseaus Lehre von der Unvcränßerlichkeit der Freiheit. Bis dahin lehrte
man: Die Menschen sind frei, aber sie können ihre Freiheit veräußern. Die
Menschen sind keiner Autorität unterworfen, aber sie können sich, vertrags¬
mäßig, einer Autorität unterwerfen. Rousseau dagegen lehrt: Nein, die Frei¬
heit ist ein unveräußerliches Recht, ebenso wie das Leben. Über sie giebt es
keine Verfügung. Die Menschen können ihre Freiheit nicht veräußern, können
sich keiner Autorität, auch nicht vertragsmäßig, unterwerfen. So wenig als sie
durch Vertrag sich rechtmäßig in Sklaverei verkaufen können, ebensowenig
können sie durch Vertrag sich rechtmäßig einer politischen Gewalt oder einem
politischen Vorrecht unterwerfen. Sie müssen ihre Freiheit ungeschmälert er¬
halten wie ihr Leben. Aus dieser Lehre von der unveräußerlichen Freiheit fol¬
gert Rousseau denkrichtig drei Grundsätze: Die Unübertragbarkeit der Volks¬
gewalt, die Unumschränktheit der Volksgewalt und die unbedingte Gleichheit
aller. Diese drei Sätze zusammen bilden den vollen Gedanken der Volkssouve¬
ränität; mit ihnen ist das System Rousseaus erschöpft. Er verkündet aber
die Volkssouveränität nicht etwa als politisches Ideal und Ziel, sondern als
Rechtsgrundsatz. Sie ist das unvertilgbare Recht der Natur und gilt darum
überall gleichmäßig — in Frankreich, England und der Türkei — und gilt
überall von selbst, braucht uicht erst eingeführt zu werden. Was anders be¬
steht, ist unrechtmäßig und nichtig; das Volk braucht nur das Recht, das es
bereits hat, auszuüben.

Nach der herrschenden Meinung von 1789 war jetzt der Augenblick ge¬
kommen, wo das Volk berufen war, das ihm von Rousseau zugesprochene
Souveränitätsrccht thatsächlich auszuüben. Die praktische Durchführung der
Rousseauschen Ideen machte einige Abweichungen davon notwendig, wie z. B.
die Zulassung einer Volksvertretung, welche von Jean Jacques, als dein
Grundsätze der Nichtveräußerung der Gewalt widerstreitend, ausdrücklich ver¬
worfen worden war. Über die Frage der Durchführbarkeit seiner Ideen hatte


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[0634] Die Ideen von ^789- halten, da jeder so frei ist wie der andre. Darum kann der Staat nnr durch die freie Einwilligung aller, nur durch Vertrag aller zu stände kommen. Nur durch Vertrag kann der Staat gleich jeder andern Gesellschaft giltig errichtet, nur durch Vertrag kann die Obrigkeit desselben giltig bestellt werden. Wenn nun auch in der Geschichte Staat und Obrigkeit nicht durch Vertrag entstanden sind, so kann doch ihr Recht nur aus stillschweigendem Vertrage der Unter¬ thanen hergeleitet und nur nach ihr bemessen werden. Auf diesen Grundgedanken, wie sie nach Grotius noch besonders durch Hobbes, Pufendorf. Thomasius, Wolfs und Kant, also nicht vorzugsweise durch französische Denker entwickelt worden sind, ruht die gesamte rechtsphilosophische Anschauungsweise des achtzehnten Jahrhunderts, des sisvls ach lumiörss, der Aufklärungsperiode, ruhen auch die „Ideen von 1789." Diese letztern haben freilich ein Element in sich aufgenommen, welches wesentlich französisch ist. Das ist Rousseaus Lehre von der Unvcränßerlichkeit der Freiheit. Bis dahin lehrte man: Die Menschen sind frei, aber sie können ihre Freiheit veräußern. Die Menschen sind keiner Autorität unterworfen, aber sie können sich, vertrags¬ mäßig, einer Autorität unterwerfen. Rousseau dagegen lehrt: Nein, die Frei¬ heit ist ein unveräußerliches Recht, ebenso wie das Leben. Über sie giebt es keine Verfügung. Die Menschen können ihre Freiheit nicht veräußern, können sich keiner Autorität, auch nicht vertragsmäßig, unterwerfen. So wenig als sie durch Vertrag sich rechtmäßig in Sklaverei verkaufen können, ebensowenig können sie durch Vertrag sich rechtmäßig einer politischen Gewalt oder einem politischen Vorrecht unterwerfen. Sie müssen ihre Freiheit ungeschmälert er¬ halten wie ihr Leben. Aus dieser Lehre von der unveräußerlichen Freiheit fol¬ gert Rousseau denkrichtig drei Grundsätze: Die Unübertragbarkeit der Volks¬ gewalt, die Unumschränktheit der Volksgewalt und die unbedingte Gleichheit aller. Diese drei Sätze zusammen bilden den vollen Gedanken der Volkssouve¬ ränität; mit ihnen ist das System Rousseaus erschöpft. Er verkündet aber die Volkssouveränität nicht etwa als politisches Ideal und Ziel, sondern als Rechtsgrundsatz. Sie ist das unvertilgbare Recht der Natur und gilt darum überall gleichmäßig — in Frankreich, England und der Türkei — und gilt überall von selbst, braucht uicht erst eingeführt zu werden. Was anders be¬ steht, ist unrechtmäßig und nichtig; das Volk braucht nur das Recht, das es bereits hat, auszuüben. Nach der herrschenden Meinung von 1789 war jetzt der Augenblick ge¬ kommen, wo das Volk berufen war, das ihm von Rousseau zugesprochene Souveränitätsrccht thatsächlich auszuüben. Die praktische Durchführung der Rousseauschen Ideen machte einige Abweichungen davon notwendig, wie z. B. die Zulassung einer Volksvertretung, welche von Jean Jacques, als dein Grundsätze der Nichtveräußerung der Gewalt widerstreitend, ausdrücklich ver¬ worfen worden war. Über die Frage der Durchführbarkeit seiner Ideen hatte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/634>, abgerufen am 28.09.2024.