Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt.

die slawischen Insurgenten der Herzegowina, als sie von den Türken über die
Grenze gedrängt waren, von den österreichischen Behörden freundlich aufge¬
nommen und zwar entwaffnet, aber dann mit ihren Familien untergebracht und
monatelang mit Lebensbedürfnissen versorgt; dann aber kam es zu einer Ver¬
ständigung mit Rußland, die vorläufig geheim blieb, aber später enthüllt wurde,
und ohne die der Krieg von 1877 nicht wohl unternommen worden wäre.
Österreich-Ungarn versprach darin gegen die Erlaubnis, sich in Bosnien und
der Herzegowina in einer Weise festzusetzen, welche einer Einverleibung dieser bisher
türkischen Provinzen nahekam und sie entschieden vorbereitete, dem Kreuzzuge
Zar Alexanders auf der Balkaninsel Gewehr beim Fuße zuzusehen. Gegen¬
wärtig finden wir die Leiter der Politik Österreichs-Ungarns wieder auf andern
Wegen: sie nehmen eine Stellung ein, in welcher die dualistische Monarchie
zwar als Freundin der christlichen Balkanslawen, aber nicht als Gegnerin der
Türkei erscheint. Die Österreicher und Ungarn sind getreue Nachbarn, vielleicht
stille Bundesgenossen der Serben, der Rumänen und möglicherweise der Bul¬
garen, wobei sie sich hinsichtlich der letztern an den Berliner Frieden halten, in
dessen Bestimmungen sie jedoch nicht wie andre Unterzeichner desselben zwischen den
Zeilen lesen können, daß Nußland ein Protektorat über Bulgarien auszuüben
befugt sei. Dieser Wechsel in der österreichisch-ungarischen Politik hat begreif¬
licherweise bei den Nüssen ebenso viel Anstoß erregt und böses Blut gemacht
als die "Undankbarkeit," die 1855 auf die Freundschaftsdienste von 1849 folgte.
Doch ergiebt sich daraus noch nicht, daß Österreich-Ungarn sofort geradezu an¬
gegriffen werden wird. Die an seiner östlichen Grenze zusammengezogenen
russische" Truppenmassen können nur als eine Mahnung dienen sollen, daß
es, falls es in Bulgarien gegen Rußland auftritt, zu befürchten hat, den
Streitkräften des Zaren in den ehemals polnischen Landen zu begegnen.
Die Russen sagen ungefähr folgendes: "Wir verlangen auf Grund des
Berliner Friedens, daß uns ein thatsächliches Protektorat über Bulgarien ein¬
geräumt werde, und Deutschland sowie Frankreich finden diese Forderung in
der Ordnung. Wir sind zu dieser Schutzherrschaft ebenso gut und noch besser
berechtigt als Frankreich zu der seinen in Tunis, Österreich zu seiner Gewalt
über Bosnien, England zu seiner Negierung in Ägypten. Wir werden unsern
Einfluß in Bulgarien mit allen Mitteln wieder geltend machen, dnrch die
Pforte, durch unsre Agenten am Balkan, und, falls Unordnungen eintreten,
durch ein Okkupationsheer. Sollte uns Österreich-Ungarn dabei durch einen
Angriff stören und hindern, so würde es das ohne seinen deutschen Verbündeten,
also auf eigne Gefahr hin, wagen, und als eine Warnung vor solcher Ein¬
mischung ziehen wir unsre Truppen in Polen zusammen." Das ist gegenwärtig
unsrer Überzeugung zufolge der Stand der bulgarischen Frage, soweit sie die
mit uns zu Verteidigungszwecken verbündete Großmacht an der Donau angeht.
Sie soll gewarnt, wenn man will, eingeschüchtert werden, und zu gleicher Zeit


Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt.

die slawischen Insurgenten der Herzegowina, als sie von den Türken über die
Grenze gedrängt waren, von den österreichischen Behörden freundlich aufge¬
nommen und zwar entwaffnet, aber dann mit ihren Familien untergebracht und
monatelang mit Lebensbedürfnissen versorgt; dann aber kam es zu einer Ver¬
ständigung mit Rußland, die vorläufig geheim blieb, aber später enthüllt wurde,
und ohne die der Krieg von 1877 nicht wohl unternommen worden wäre.
Österreich-Ungarn versprach darin gegen die Erlaubnis, sich in Bosnien und
der Herzegowina in einer Weise festzusetzen, welche einer Einverleibung dieser bisher
türkischen Provinzen nahekam und sie entschieden vorbereitete, dem Kreuzzuge
Zar Alexanders auf der Balkaninsel Gewehr beim Fuße zuzusehen. Gegen¬
wärtig finden wir die Leiter der Politik Österreichs-Ungarns wieder auf andern
Wegen: sie nehmen eine Stellung ein, in welcher die dualistische Monarchie
zwar als Freundin der christlichen Balkanslawen, aber nicht als Gegnerin der
Türkei erscheint. Die Österreicher und Ungarn sind getreue Nachbarn, vielleicht
stille Bundesgenossen der Serben, der Rumänen und möglicherweise der Bul¬
garen, wobei sie sich hinsichtlich der letztern an den Berliner Frieden halten, in
dessen Bestimmungen sie jedoch nicht wie andre Unterzeichner desselben zwischen den
Zeilen lesen können, daß Nußland ein Protektorat über Bulgarien auszuüben
befugt sei. Dieser Wechsel in der österreichisch-ungarischen Politik hat begreif¬
licherweise bei den Nüssen ebenso viel Anstoß erregt und böses Blut gemacht
als die „Undankbarkeit," die 1855 auf die Freundschaftsdienste von 1849 folgte.
Doch ergiebt sich daraus noch nicht, daß Österreich-Ungarn sofort geradezu an¬
gegriffen werden wird. Die an seiner östlichen Grenze zusammengezogenen
russische» Truppenmassen können nur als eine Mahnung dienen sollen, daß
es, falls es in Bulgarien gegen Rußland auftritt, zu befürchten hat, den
Streitkräften des Zaren in den ehemals polnischen Landen zu begegnen.
Die Russen sagen ungefähr folgendes: „Wir verlangen auf Grund des
Berliner Friedens, daß uns ein thatsächliches Protektorat über Bulgarien ein¬
geräumt werde, und Deutschland sowie Frankreich finden diese Forderung in
der Ordnung. Wir sind zu dieser Schutzherrschaft ebenso gut und noch besser
berechtigt als Frankreich zu der seinen in Tunis, Österreich zu seiner Gewalt
über Bosnien, England zu seiner Negierung in Ägypten. Wir werden unsern
Einfluß in Bulgarien mit allen Mitteln wieder geltend machen, dnrch die
Pforte, durch unsre Agenten am Balkan, und, falls Unordnungen eintreten,
durch ein Okkupationsheer. Sollte uns Österreich-Ungarn dabei durch einen
Angriff stören und hindern, so würde es das ohne seinen deutschen Verbündeten,
also auf eigne Gefahr hin, wagen, und als eine Warnung vor solcher Ein¬
mischung ziehen wir unsre Truppen in Polen zusammen." Das ist gegenwärtig
unsrer Überzeugung zufolge der Stand der bulgarischen Frage, soweit sie die
mit uns zu Verteidigungszwecken verbündete Großmacht an der Donau angeht.
Sie soll gewarnt, wenn man will, eingeschüchtert werden, und zu gleicher Zeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0591" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202690"/>
          <fw type="header" place="top"> Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2151" prev="#ID_2150" next="#ID_2152"> die slawischen Insurgenten der Herzegowina, als sie von den Türken über die<lb/>
Grenze gedrängt waren, von den österreichischen Behörden freundlich aufge¬<lb/>
nommen und zwar entwaffnet, aber dann mit ihren Familien untergebracht und<lb/>
monatelang mit Lebensbedürfnissen versorgt; dann aber kam es zu einer Ver¬<lb/>
ständigung mit Rußland, die vorläufig geheim blieb, aber später enthüllt wurde,<lb/>
und ohne die der Krieg von 1877 nicht wohl unternommen worden wäre.<lb/>
Österreich-Ungarn versprach darin gegen die Erlaubnis, sich in Bosnien und<lb/>
der Herzegowina in einer Weise festzusetzen, welche einer Einverleibung dieser bisher<lb/>
türkischen Provinzen nahekam und sie entschieden vorbereitete, dem Kreuzzuge<lb/>
Zar Alexanders auf der Balkaninsel Gewehr beim Fuße zuzusehen. Gegen¬<lb/>
wärtig finden wir die Leiter der Politik Österreichs-Ungarns wieder auf andern<lb/>
Wegen: sie nehmen eine Stellung ein, in welcher die dualistische Monarchie<lb/>
zwar als Freundin der christlichen Balkanslawen, aber nicht als Gegnerin der<lb/>
Türkei erscheint. Die Österreicher und Ungarn sind getreue Nachbarn, vielleicht<lb/>
stille Bundesgenossen der Serben, der Rumänen und möglicherweise der Bul¬<lb/>
garen, wobei sie sich hinsichtlich der letztern an den Berliner Frieden halten, in<lb/>
dessen Bestimmungen sie jedoch nicht wie andre Unterzeichner desselben zwischen den<lb/>
Zeilen lesen können, daß Nußland ein Protektorat über Bulgarien auszuüben<lb/>
befugt sei. Dieser Wechsel in der österreichisch-ungarischen Politik hat begreif¬<lb/>
licherweise bei den Nüssen ebenso viel Anstoß erregt und böses Blut gemacht<lb/>
als die &#x201E;Undankbarkeit," die 1855 auf die Freundschaftsdienste von 1849 folgte.<lb/>
Doch ergiebt sich daraus noch nicht, daß Österreich-Ungarn sofort geradezu an¬<lb/>
gegriffen werden wird. Die an seiner östlichen Grenze zusammengezogenen<lb/>
russische» Truppenmassen können nur als eine Mahnung dienen sollen, daß<lb/>
es, falls es in Bulgarien gegen Rußland auftritt, zu befürchten hat, den<lb/>
Streitkräften des Zaren in den ehemals polnischen Landen zu begegnen.<lb/>
Die Russen sagen ungefähr folgendes: &#x201E;Wir verlangen auf Grund des<lb/>
Berliner Friedens, daß uns ein thatsächliches Protektorat über Bulgarien ein¬<lb/>
geräumt werde, und Deutschland sowie Frankreich finden diese Forderung in<lb/>
der Ordnung. Wir sind zu dieser Schutzherrschaft ebenso gut und noch besser<lb/>
berechtigt als Frankreich zu der seinen in Tunis, Österreich zu seiner Gewalt<lb/>
über Bosnien, England zu seiner Negierung in Ägypten. Wir werden unsern<lb/>
Einfluß in Bulgarien mit allen Mitteln wieder geltend machen, dnrch die<lb/>
Pforte, durch unsre Agenten am Balkan, und, falls Unordnungen eintreten,<lb/>
durch ein Okkupationsheer. Sollte uns Österreich-Ungarn dabei durch einen<lb/>
Angriff stören und hindern, so würde es das ohne seinen deutschen Verbündeten,<lb/>
also auf eigne Gefahr hin, wagen, und als eine Warnung vor solcher Ein¬<lb/>
mischung ziehen wir unsre Truppen in Polen zusammen." Das ist gegenwärtig<lb/>
unsrer Überzeugung zufolge der Stand der bulgarischen Frage, soweit sie die<lb/>
mit uns zu Verteidigungszwecken verbündete Großmacht an der Donau angeht.<lb/>
Sie soll gewarnt, wenn man will, eingeschüchtert werden, und zu gleicher Zeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0591] Prinz Ferdinand zweiter Akt, zweiter Auftritt. die slawischen Insurgenten der Herzegowina, als sie von den Türken über die Grenze gedrängt waren, von den österreichischen Behörden freundlich aufge¬ nommen und zwar entwaffnet, aber dann mit ihren Familien untergebracht und monatelang mit Lebensbedürfnissen versorgt; dann aber kam es zu einer Ver¬ ständigung mit Rußland, die vorläufig geheim blieb, aber später enthüllt wurde, und ohne die der Krieg von 1877 nicht wohl unternommen worden wäre. Österreich-Ungarn versprach darin gegen die Erlaubnis, sich in Bosnien und der Herzegowina in einer Weise festzusetzen, welche einer Einverleibung dieser bisher türkischen Provinzen nahekam und sie entschieden vorbereitete, dem Kreuzzuge Zar Alexanders auf der Balkaninsel Gewehr beim Fuße zuzusehen. Gegen¬ wärtig finden wir die Leiter der Politik Österreichs-Ungarns wieder auf andern Wegen: sie nehmen eine Stellung ein, in welcher die dualistische Monarchie zwar als Freundin der christlichen Balkanslawen, aber nicht als Gegnerin der Türkei erscheint. Die Österreicher und Ungarn sind getreue Nachbarn, vielleicht stille Bundesgenossen der Serben, der Rumänen und möglicherweise der Bul¬ garen, wobei sie sich hinsichtlich der letztern an den Berliner Frieden halten, in dessen Bestimmungen sie jedoch nicht wie andre Unterzeichner desselben zwischen den Zeilen lesen können, daß Nußland ein Protektorat über Bulgarien auszuüben befugt sei. Dieser Wechsel in der österreichisch-ungarischen Politik hat begreif¬ licherweise bei den Nüssen ebenso viel Anstoß erregt und böses Blut gemacht als die „Undankbarkeit," die 1855 auf die Freundschaftsdienste von 1849 folgte. Doch ergiebt sich daraus noch nicht, daß Österreich-Ungarn sofort geradezu an¬ gegriffen werden wird. Die an seiner östlichen Grenze zusammengezogenen russische» Truppenmassen können nur als eine Mahnung dienen sollen, daß es, falls es in Bulgarien gegen Rußland auftritt, zu befürchten hat, den Streitkräften des Zaren in den ehemals polnischen Landen zu begegnen. Die Russen sagen ungefähr folgendes: „Wir verlangen auf Grund des Berliner Friedens, daß uns ein thatsächliches Protektorat über Bulgarien ein¬ geräumt werde, und Deutschland sowie Frankreich finden diese Forderung in der Ordnung. Wir sind zu dieser Schutzherrschaft ebenso gut und noch besser berechtigt als Frankreich zu der seinen in Tunis, Österreich zu seiner Gewalt über Bosnien, England zu seiner Negierung in Ägypten. Wir werden unsern Einfluß in Bulgarien mit allen Mitteln wieder geltend machen, dnrch die Pforte, durch unsre Agenten am Balkan, und, falls Unordnungen eintreten, durch ein Okkupationsheer. Sollte uns Österreich-Ungarn dabei durch einen Angriff stören und hindern, so würde es das ohne seinen deutschen Verbündeten, also auf eigne Gefahr hin, wagen, und als eine Warnung vor solcher Ein¬ mischung ziehen wir unsre Truppen in Polen zusammen." Das ist gegenwärtig unsrer Überzeugung zufolge der Stand der bulgarischen Frage, soweit sie die mit uns zu Verteidigungszwecken verbündete Großmacht an der Donau angeht. Sie soll gewarnt, wenn man will, eingeschüchtert werden, und zu gleicher Zeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/591
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/591>, abgerufen am 27.06.2024.