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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Stand der bulgarischen Frage.

gegennähme und dann zu den Akten legte? Was soll dann geschehen? Werden die
Mächte, welche sie veranlaßt haben, sich solche Mißachtung ihres Willens ruhig
gefallen lassen? Hieße sich das nicht vor ganz Europa lächerlich machen? Wenn
aber Gewaltanwendung darauf folgen soll, wer soll der Vollstrecker des Zwanges
sein? Natürlich der Sultan, der Suzerän der Bulgaren. Hier ist aber eins
absolut sicher: der Sultan wird keinen Mann marschiren und keinen Piaster
ausgeben lassen, um den Prätendenten abzusetzen und zu vertreiben. Abdul
Hamid weiß sehr wohl, daß das Einrücken türkischer Truppen in das Fürstentum
das Zeichen zu Aufständen in verschiednen Teilen des Restes seiner europäischen
Besitzungen geben würde, und daß diese Flammen, einmal ausgebrochen, nicht
leicht zu löschen sein würden. Er erinnert sich ohne Zweifel daran, was auf
die Unterdrückung der Revolte von 1876 durch die Tscherkessen folgte, daß die
Ereignisse in Balat und dessen Nachbarschaft mit dem Vertrage von San Stefano
und zuletzt wenigstens mit sehr beträchtlichen bleibenden Landverlusten für die
Pforte endigten. Das gebrannte Kind aber fürchtet sich vor dem Feuer. Diesmal
würde es überdies noch schlimmer ablaufen. Der Kampf würde sich nicht auf
Türken und Bulgaren beschränken, sondern Serben und Griechen, Österreicher
und Russen würden sich einmischen, und gleichviel, wer am Ende Sieger bliebe
und Beute heimbrachte, die Türken würden einer der Verlierer sein. Deshalb
ist eins unter allen Umständen so gut wie ausgemacht: keinerlei russischer Druck
und Drang wird den Sultan bewegen, die Koburger Kastanie aus dem bul¬
garischen Feuer zu holen. Es bleibt dann, wie es scheint, nur eine Besetzung
des ungehorsamen und widersetzlichen Bulgarenlandes durch eine russische Truppen¬
macht übrig. Die aber wird Europa, etwa mit Ausnahme Frankreichs, kaum
zulassen wollen, und es ist sehr fraglich, ob der Zar sich die Sache nicht zweimal
überlegen würde, selbst wenn ganz Europa sie gestattete. Weitschauende Staats¬
männer in Österreich, Italien und England könnten zu dem Zugeständnis geneigt
sein, weil es eine russische Armee in die Aufgabe verwickeln würde, die Freiheit
und Unabhängigkeit der Bulgaren niederzutreten. Sie wäre dann nicht anders
zu verwenden. Es wäre eine Ablenkung, eine teilweise vollzogene Fesselung für
geraume Zeit. Der Zar aber, oder richtiger seine Ratgeber, sehen das eben¬
falls, und hierin haben wir die Erklärung der in den letzten Wochen wiederholt
ergangnen russischen Äußerungen, man habe Geduld und wünsche Erhaltung des
Friedens am Balkan. Wir müssen uns entsinnen, daß die pcinslawistische Auf¬
fassung der Dinge und das damit verbundene Streben von höchstem Einflüsse
auf die russische Politik sind. Die "Befreiung der bulgarischen Mitchristen und
Slawenbrüder vom Joche der Türken" war das Werk des Vaters Alexander
des Dritten, und das Russenvolk ist noch stolz darauf, daß er es unternahm
und mit Erfolg weiterführte. Jetzt wieder in das Land einzudringen, nicht be-
willkommt als Freiheitsbringer, sondern wenigstens von vielen Bulgaren ver¬
abscheut als Unterdrücker und von der Presse des Westens als Tyrann verklagt


Der Stand der bulgarischen Frage.

gegennähme und dann zu den Akten legte? Was soll dann geschehen? Werden die
Mächte, welche sie veranlaßt haben, sich solche Mißachtung ihres Willens ruhig
gefallen lassen? Hieße sich das nicht vor ganz Europa lächerlich machen? Wenn
aber Gewaltanwendung darauf folgen soll, wer soll der Vollstrecker des Zwanges
sein? Natürlich der Sultan, der Suzerän der Bulgaren. Hier ist aber eins
absolut sicher: der Sultan wird keinen Mann marschiren und keinen Piaster
ausgeben lassen, um den Prätendenten abzusetzen und zu vertreiben. Abdul
Hamid weiß sehr wohl, daß das Einrücken türkischer Truppen in das Fürstentum
das Zeichen zu Aufständen in verschiednen Teilen des Restes seiner europäischen
Besitzungen geben würde, und daß diese Flammen, einmal ausgebrochen, nicht
leicht zu löschen sein würden. Er erinnert sich ohne Zweifel daran, was auf
die Unterdrückung der Revolte von 1876 durch die Tscherkessen folgte, daß die
Ereignisse in Balat und dessen Nachbarschaft mit dem Vertrage von San Stefano
und zuletzt wenigstens mit sehr beträchtlichen bleibenden Landverlusten für die
Pforte endigten. Das gebrannte Kind aber fürchtet sich vor dem Feuer. Diesmal
würde es überdies noch schlimmer ablaufen. Der Kampf würde sich nicht auf
Türken und Bulgaren beschränken, sondern Serben und Griechen, Österreicher
und Russen würden sich einmischen, und gleichviel, wer am Ende Sieger bliebe
und Beute heimbrachte, die Türken würden einer der Verlierer sein. Deshalb
ist eins unter allen Umständen so gut wie ausgemacht: keinerlei russischer Druck
und Drang wird den Sultan bewegen, die Koburger Kastanie aus dem bul¬
garischen Feuer zu holen. Es bleibt dann, wie es scheint, nur eine Besetzung
des ungehorsamen und widersetzlichen Bulgarenlandes durch eine russische Truppen¬
macht übrig. Die aber wird Europa, etwa mit Ausnahme Frankreichs, kaum
zulassen wollen, und es ist sehr fraglich, ob der Zar sich die Sache nicht zweimal
überlegen würde, selbst wenn ganz Europa sie gestattete. Weitschauende Staats¬
männer in Österreich, Italien und England könnten zu dem Zugeständnis geneigt
sein, weil es eine russische Armee in die Aufgabe verwickeln würde, die Freiheit
und Unabhängigkeit der Bulgaren niederzutreten. Sie wäre dann nicht anders
zu verwenden. Es wäre eine Ablenkung, eine teilweise vollzogene Fesselung für
geraume Zeit. Der Zar aber, oder richtiger seine Ratgeber, sehen das eben¬
falls, und hierin haben wir die Erklärung der in den letzten Wochen wiederholt
ergangnen russischen Äußerungen, man habe Geduld und wünsche Erhaltung des
Friedens am Balkan. Wir müssen uns entsinnen, daß die pcinslawistische Auf¬
fassung der Dinge und das damit verbundene Streben von höchstem Einflüsse
auf die russische Politik sind. Die „Befreiung der bulgarischen Mitchristen und
Slawenbrüder vom Joche der Türken" war das Werk des Vaters Alexander
des Dritten, und das Russenvolk ist noch stolz darauf, daß er es unternahm
und mit Erfolg weiterführte. Jetzt wieder in das Land einzudringen, nicht be-
willkommt als Freiheitsbringer, sondern wenigstens von vielen Bulgaren ver¬
abscheut als Unterdrücker und von der Presse des Westens als Tyrann verklagt


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[0568] Der Stand der bulgarischen Frage. gegennähme und dann zu den Akten legte? Was soll dann geschehen? Werden die Mächte, welche sie veranlaßt haben, sich solche Mißachtung ihres Willens ruhig gefallen lassen? Hieße sich das nicht vor ganz Europa lächerlich machen? Wenn aber Gewaltanwendung darauf folgen soll, wer soll der Vollstrecker des Zwanges sein? Natürlich der Sultan, der Suzerän der Bulgaren. Hier ist aber eins absolut sicher: der Sultan wird keinen Mann marschiren und keinen Piaster ausgeben lassen, um den Prätendenten abzusetzen und zu vertreiben. Abdul Hamid weiß sehr wohl, daß das Einrücken türkischer Truppen in das Fürstentum das Zeichen zu Aufständen in verschiednen Teilen des Restes seiner europäischen Besitzungen geben würde, und daß diese Flammen, einmal ausgebrochen, nicht leicht zu löschen sein würden. Er erinnert sich ohne Zweifel daran, was auf die Unterdrückung der Revolte von 1876 durch die Tscherkessen folgte, daß die Ereignisse in Balat und dessen Nachbarschaft mit dem Vertrage von San Stefano und zuletzt wenigstens mit sehr beträchtlichen bleibenden Landverlusten für die Pforte endigten. Das gebrannte Kind aber fürchtet sich vor dem Feuer. Diesmal würde es überdies noch schlimmer ablaufen. Der Kampf würde sich nicht auf Türken und Bulgaren beschränken, sondern Serben und Griechen, Österreicher und Russen würden sich einmischen, und gleichviel, wer am Ende Sieger bliebe und Beute heimbrachte, die Türken würden einer der Verlierer sein. Deshalb ist eins unter allen Umständen so gut wie ausgemacht: keinerlei russischer Druck und Drang wird den Sultan bewegen, die Koburger Kastanie aus dem bul¬ garischen Feuer zu holen. Es bleibt dann, wie es scheint, nur eine Besetzung des ungehorsamen und widersetzlichen Bulgarenlandes durch eine russische Truppen¬ macht übrig. Die aber wird Europa, etwa mit Ausnahme Frankreichs, kaum zulassen wollen, und es ist sehr fraglich, ob der Zar sich die Sache nicht zweimal überlegen würde, selbst wenn ganz Europa sie gestattete. Weitschauende Staats¬ männer in Österreich, Italien und England könnten zu dem Zugeständnis geneigt sein, weil es eine russische Armee in die Aufgabe verwickeln würde, die Freiheit und Unabhängigkeit der Bulgaren niederzutreten. Sie wäre dann nicht anders zu verwenden. Es wäre eine Ablenkung, eine teilweise vollzogene Fesselung für geraume Zeit. Der Zar aber, oder richtiger seine Ratgeber, sehen das eben¬ falls, und hierin haben wir die Erklärung der in den letzten Wochen wiederholt ergangnen russischen Äußerungen, man habe Geduld und wünsche Erhaltung des Friedens am Balkan. Wir müssen uns entsinnen, daß die pcinslawistische Auf¬ fassung der Dinge und das damit verbundene Streben von höchstem Einflüsse auf die russische Politik sind. Die „Befreiung der bulgarischen Mitchristen und Slawenbrüder vom Joche der Türken" war das Werk des Vaters Alexander des Dritten, und das Russenvolk ist noch stolz darauf, daß er es unternahm und mit Erfolg weiterführte. Jetzt wieder in das Land einzudringen, nicht be- willkommt als Freiheitsbringer, sondern wenigstens von vielen Bulgaren ver¬ abscheut als Unterdrücker und von der Presse des Westens als Tyrann verklagt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/568>, abgerufen am 28.09.2024.