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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Bildung der Töchter höherer Stände.

daselbst fand in den Jahren 1884 und 1885 statt. Im Großherzogtum Hessen
wurde die höhere Mädchenschule der Hauptstadt 1880 den Realschulen erster
Ordnung in allen wesentlichen Beziehungen gleichgestellt. Im Großherzogtum
Oldenburg steht die höhere Mädchenschule Oldenburgs (Cäcilienschule) unter
derselben Oberschulbchörde wie Gymnasium und Nealanstalt. Im Herzogtum
Braunschweig erfolgte die Normirung im Jahre 1881 durch ein Regulativ,
das zugleich einen Normallehr- und Einrichtungsplan brachte. Hamburg leistete
sich zwei vollberechtigte höhere Mädchenschulen ze.

Bei dieser Sachlage wird der preußische Staat mit Normativbestimmungen
kaum zurückbleiben können. Freilich ist die Sache hier nicht so einfach, wie
etwa in Braunschweig oder Hessen-Darmstadt. Die Vielgestaltigkeit des Töchter¬
schulwesens erschwert eine einheitliche Regelung ungemein, sonst wären wir gewiß
schon weiter damit. "Die statistischen Nachrichten -- äußerte der Herr
Nessortminister -- beweisen, daß die Mädchenschulen in Preußen gar mannich-
fach, in den einzelnen Provinzen ganz verschieden sind. In den östlichen Pro¬
vinzen ist das vorherrschende die Privatschule. Der Geldfrage wegen muß die¬
selbe bestehen bleiben. In Westpreußen und Posen hat man mit dem mangelnden
Verständnis der Gemeinden zu kämpfen."

Aber die Sache sieht sich schlimmer an, als sie ist. Die Verschiedenheiten
sind doch mehr äußerlicher Natur, die geistige Arbeit geschieht, und das ist ohne
Zweifel die Hauptsache, vorwiegend nach denselben Unterrichts- und Erziehungs¬
grundsätzen. Dies gilt nicht nur von sämtlichen öffentlichen, sondern auch, mit
wenigen Ausnahmen, jetzt von den Privatschulen, die sich übereinstimmend mit
den andern eingerichtet haben oder allmählich einrichten. Selbst die geschilderten
rührenden kleinen Schulen mit einer, zwei oder drei Klassen arbeiten, so gut
es gehen will, unter Zugrundelegung des Lehrplans einer ausgebauten Anstalt,
zu der sie besondres Vertrauen hegen. Daß in solchem Falle mancher Mißgriff
möglich, ja wahrscheinlich ist, wer wollte das bestreiten? Aber kommen bei den
Schulen für die männliche Jugend, sogar die leitenden Grundsätze selbst nicht
ausgenommen, etwa keine Mißgriffe vor? Einen beliebten Angriffspunkt bilden
die Aufsatzthemata höherer Mädchenschulen, die dann gelegentlich unter der
Überschrift: "Töchterschnlunsinn" in der Presse zum allgemeinen Ergötzen ver-
öffenilicht werden. Hält man es aber, wenn ein Gymnasiast, ohne irgendwie
angeleitet zu werden, über "das Naive in Lessings Werken" schreiben soll, nicht
für mindestens auch sehr "naiv"? Es wird innerhalb und außerhalb der
Mauern Jlions gesündigt, und dergleichen Kleinigkeiten können eine staatliche
Unterrichtsverwaltung nicht abhalten, die Mädchenschule auf die Stufe des
wirklich höhern Schulwesens, im gesetzlichen Sinne, emporzuheben.

Ausschlaggebend muß in unserm Zahlenjahrhundert die Statistik des höhern
Mädchenschulwesens sein. Hier ist das Ergebnis für die höhere Mädchenschule
ein sehr günstiges. Der preußische Staat hat nach der letzten amtlichen Zählung


Die Bildung der Töchter höherer Stände.

daselbst fand in den Jahren 1884 und 1885 statt. Im Großherzogtum Hessen
wurde die höhere Mädchenschule der Hauptstadt 1880 den Realschulen erster
Ordnung in allen wesentlichen Beziehungen gleichgestellt. Im Großherzogtum
Oldenburg steht die höhere Mädchenschule Oldenburgs (Cäcilienschule) unter
derselben Oberschulbchörde wie Gymnasium und Nealanstalt. Im Herzogtum
Braunschweig erfolgte die Normirung im Jahre 1881 durch ein Regulativ,
das zugleich einen Normallehr- und Einrichtungsplan brachte. Hamburg leistete
sich zwei vollberechtigte höhere Mädchenschulen ze.

Bei dieser Sachlage wird der preußische Staat mit Normativbestimmungen
kaum zurückbleiben können. Freilich ist die Sache hier nicht so einfach, wie
etwa in Braunschweig oder Hessen-Darmstadt. Die Vielgestaltigkeit des Töchter¬
schulwesens erschwert eine einheitliche Regelung ungemein, sonst wären wir gewiß
schon weiter damit. „Die statistischen Nachrichten — äußerte der Herr
Nessortminister — beweisen, daß die Mädchenschulen in Preußen gar mannich-
fach, in den einzelnen Provinzen ganz verschieden sind. In den östlichen Pro¬
vinzen ist das vorherrschende die Privatschule. Der Geldfrage wegen muß die¬
selbe bestehen bleiben. In Westpreußen und Posen hat man mit dem mangelnden
Verständnis der Gemeinden zu kämpfen."

Aber die Sache sieht sich schlimmer an, als sie ist. Die Verschiedenheiten
sind doch mehr äußerlicher Natur, die geistige Arbeit geschieht, und das ist ohne
Zweifel die Hauptsache, vorwiegend nach denselben Unterrichts- und Erziehungs¬
grundsätzen. Dies gilt nicht nur von sämtlichen öffentlichen, sondern auch, mit
wenigen Ausnahmen, jetzt von den Privatschulen, die sich übereinstimmend mit
den andern eingerichtet haben oder allmählich einrichten. Selbst die geschilderten
rührenden kleinen Schulen mit einer, zwei oder drei Klassen arbeiten, so gut
es gehen will, unter Zugrundelegung des Lehrplans einer ausgebauten Anstalt,
zu der sie besondres Vertrauen hegen. Daß in solchem Falle mancher Mißgriff
möglich, ja wahrscheinlich ist, wer wollte das bestreiten? Aber kommen bei den
Schulen für die männliche Jugend, sogar die leitenden Grundsätze selbst nicht
ausgenommen, etwa keine Mißgriffe vor? Einen beliebten Angriffspunkt bilden
die Aufsatzthemata höherer Mädchenschulen, die dann gelegentlich unter der
Überschrift: „Töchterschnlunsinn" in der Presse zum allgemeinen Ergötzen ver-
öffenilicht werden. Hält man es aber, wenn ein Gymnasiast, ohne irgendwie
angeleitet zu werden, über „das Naive in Lessings Werken" schreiben soll, nicht
für mindestens auch sehr „naiv"? Es wird innerhalb und außerhalb der
Mauern Jlions gesündigt, und dergleichen Kleinigkeiten können eine staatliche
Unterrichtsverwaltung nicht abhalten, die Mädchenschule auf die Stufe des
wirklich höhern Schulwesens, im gesetzlichen Sinne, emporzuheben.

Ausschlaggebend muß in unserm Zahlenjahrhundert die Statistik des höhern
Mädchenschulwesens sein. Hier ist das Ergebnis für die höhere Mädchenschule
ein sehr günstiges. Der preußische Staat hat nach der letzten amtlichen Zählung


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[0562] Die Bildung der Töchter höherer Stände. daselbst fand in den Jahren 1884 und 1885 statt. Im Großherzogtum Hessen wurde die höhere Mädchenschule der Hauptstadt 1880 den Realschulen erster Ordnung in allen wesentlichen Beziehungen gleichgestellt. Im Großherzogtum Oldenburg steht die höhere Mädchenschule Oldenburgs (Cäcilienschule) unter derselben Oberschulbchörde wie Gymnasium und Nealanstalt. Im Herzogtum Braunschweig erfolgte die Normirung im Jahre 1881 durch ein Regulativ, das zugleich einen Normallehr- und Einrichtungsplan brachte. Hamburg leistete sich zwei vollberechtigte höhere Mädchenschulen ze. Bei dieser Sachlage wird der preußische Staat mit Normativbestimmungen kaum zurückbleiben können. Freilich ist die Sache hier nicht so einfach, wie etwa in Braunschweig oder Hessen-Darmstadt. Die Vielgestaltigkeit des Töchter¬ schulwesens erschwert eine einheitliche Regelung ungemein, sonst wären wir gewiß schon weiter damit. „Die statistischen Nachrichten — äußerte der Herr Nessortminister — beweisen, daß die Mädchenschulen in Preußen gar mannich- fach, in den einzelnen Provinzen ganz verschieden sind. In den östlichen Pro¬ vinzen ist das vorherrschende die Privatschule. Der Geldfrage wegen muß die¬ selbe bestehen bleiben. In Westpreußen und Posen hat man mit dem mangelnden Verständnis der Gemeinden zu kämpfen." Aber die Sache sieht sich schlimmer an, als sie ist. Die Verschiedenheiten sind doch mehr äußerlicher Natur, die geistige Arbeit geschieht, und das ist ohne Zweifel die Hauptsache, vorwiegend nach denselben Unterrichts- und Erziehungs¬ grundsätzen. Dies gilt nicht nur von sämtlichen öffentlichen, sondern auch, mit wenigen Ausnahmen, jetzt von den Privatschulen, die sich übereinstimmend mit den andern eingerichtet haben oder allmählich einrichten. Selbst die geschilderten rührenden kleinen Schulen mit einer, zwei oder drei Klassen arbeiten, so gut es gehen will, unter Zugrundelegung des Lehrplans einer ausgebauten Anstalt, zu der sie besondres Vertrauen hegen. Daß in solchem Falle mancher Mißgriff möglich, ja wahrscheinlich ist, wer wollte das bestreiten? Aber kommen bei den Schulen für die männliche Jugend, sogar die leitenden Grundsätze selbst nicht ausgenommen, etwa keine Mißgriffe vor? Einen beliebten Angriffspunkt bilden die Aufsatzthemata höherer Mädchenschulen, die dann gelegentlich unter der Überschrift: „Töchterschnlunsinn" in der Presse zum allgemeinen Ergötzen ver- öffenilicht werden. Hält man es aber, wenn ein Gymnasiast, ohne irgendwie angeleitet zu werden, über „das Naive in Lessings Werken" schreiben soll, nicht für mindestens auch sehr „naiv"? Es wird innerhalb und außerhalb der Mauern Jlions gesündigt, und dergleichen Kleinigkeiten können eine staatliche Unterrichtsverwaltung nicht abhalten, die Mädchenschule auf die Stufe des wirklich höhern Schulwesens, im gesetzlichen Sinne, emporzuheben. Ausschlaggebend muß in unserm Zahlenjahrhundert die Statistik des höhern Mädchenschulwesens sein. Hier ist das Ergebnis für die höhere Mädchenschule ein sehr günstiges. Der preußische Staat hat nach der letzten amtlichen Zählung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/562>, abgerufen am 28.09.2024.