Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gin böser Geist im heutigen England.

Unter den Handelsgrundsätzen, welche dazu beigetragen haben, England zu
dem zu machen, was es gegenwärtig ist, ist der Pferdefuß des Teufels Carl
leicht zu erkennen. Man ist nicht damit zufrieden gewesen, den Freihandel als
eine dem eignen Bedürfnisse entsprechende Einrichtung zu besitzen, sondern hat
ihn als Schiboleth. als eine Art von Wundermedizin zu allgemeiner Anwendung
empfohlen. Agitationsredner versetzen ihre Zuhörer in Verzückung durch Zahlen¬
beweise, welche zeigen sollen, wie viel besser es durch ihn um das Volk stehe
als früher, und die guten Leute übersehen, daß sie jetzt zwar mehr Geld ver¬
dienen, das Geld aber weniger wert ist, und daß Völker, welche der Freihandel
nicht bereichert, ebenfalls jetzt wohlhabender sind als vordem. Die einfältige
Menge jubelt über die Phrase der Agitatoren vom "freien Frühstückstische,"
den man ihrer Predigt verdanke, aber der Carl der Herren verblendet sie über
die ungeheure Menge von Nahrungsmittelverfälschungeu in England, welche
dieses wirtschaftliche Evangelium mit seinem I^issW taire verschuldet hat. John
Bright charakterisirt die Verfälschungen nur als eine unvermeidliche, wo nicht
billige und erlaubte Form der Konkurrenz, die auf sie gesetzten geringen Strafen
schrecken nicht ab, und die Folge ist eine Vergiftung der untern Klassen, vor¬
züglich im Bereiche der geistigen Getränke. Während der Freihandel ferner
die höhere Mittelklasse befähigt, Reichtümer zu erwerben, bewirkt er mittelbar
ein Steigen der Lohne und setzt so die Massen in den Stand, sich manche
Lebensbedürfnisse leichter zu verschaffen, nur sind sie eben vielfach verfälscht,
auch sind nicht alle Lohnarbeiter, viele sind kleine Beamte oder Krämer. Mit
den Verkäufern verfälschter Lebensbedürfnisse der untern Klasse -- die wohl¬
habende leidet daran nicht, sie kauft sich echte Waare -- gehen infolge des
1,3.18862 lÄirö der Freihändler die Verfertiger schädlicher oder doch nicht preis¬
werter Pillen und Tränkchen und eine Menge ungeprüfter Apotheker und
Droguistcn Hand in Hand. Aber was kümmert das den Carl, er fährt fort,
zu prahlen: Wir kaufen auf dem wohlfeilsten Markte und verkaufen auf dem
teuersten. Und so sagt er im allgemeinen mit geheuchelter Philosophie: "Laßt
uns in Ruhe, laßt uns arbeiten für den Erfahrungssatz, daß der Stärkere und
Klügere die Schwächeren und Beschränkteren überlebt, der Reiche den Armen
aussaugt; das Gesetz, der Staat darf der Natur die Wege nicht zudämmen.
Gehen die Kleinen dabei zu Grunde, so stehen doch die Großen, die immer als
die Bessern zu gelten haben, in der Freihandelshalle zu Manchester dick und fett
vor uns und führen die lieben Ihrigen Sonntags gewissenhaft in die Kirche."

Whitmcm kommt in dem Kapitel, in welchem er sich mit diesem und ähn¬
lichem Carl beschäftigt, zuletzt auch auf die blinden Sympathien der englischen
liberalen und radikalen Doktrinäre und ihre Antipathien in der auswärtigen
Politik zu sprechen, über denen sie die Interessen des eignen Landes vergessen.
Er sagt da, zuweilen recht verständig, zuweilen allerdings weniger beifallswert:
"Statt einen toten Frosch zu galvanisiren, indem wir mit Frankreich liebäugeln,


Gin böser Geist im heutigen England.

Unter den Handelsgrundsätzen, welche dazu beigetragen haben, England zu
dem zu machen, was es gegenwärtig ist, ist der Pferdefuß des Teufels Carl
leicht zu erkennen. Man ist nicht damit zufrieden gewesen, den Freihandel als
eine dem eignen Bedürfnisse entsprechende Einrichtung zu besitzen, sondern hat
ihn als Schiboleth. als eine Art von Wundermedizin zu allgemeiner Anwendung
empfohlen. Agitationsredner versetzen ihre Zuhörer in Verzückung durch Zahlen¬
beweise, welche zeigen sollen, wie viel besser es durch ihn um das Volk stehe
als früher, und die guten Leute übersehen, daß sie jetzt zwar mehr Geld ver¬
dienen, das Geld aber weniger wert ist, und daß Völker, welche der Freihandel
nicht bereichert, ebenfalls jetzt wohlhabender sind als vordem. Die einfältige
Menge jubelt über die Phrase der Agitatoren vom „freien Frühstückstische,"
den man ihrer Predigt verdanke, aber der Carl der Herren verblendet sie über
die ungeheure Menge von Nahrungsmittelverfälschungeu in England, welche
dieses wirtschaftliche Evangelium mit seinem I^issW taire verschuldet hat. John
Bright charakterisirt die Verfälschungen nur als eine unvermeidliche, wo nicht
billige und erlaubte Form der Konkurrenz, die auf sie gesetzten geringen Strafen
schrecken nicht ab, und die Folge ist eine Vergiftung der untern Klassen, vor¬
züglich im Bereiche der geistigen Getränke. Während der Freihandel ferner
die höhere Mittelklasse befähigt, Reichtümer zu erwerben, bewirkt er mittelbar
ein Steigen der Lohne und setzt so die Massen in den Stand, sich manche
Lebensbedürfnisse leichter zu verschaffen, nur sind sie eben vielfach verfälscht,
auch sind nicht alle Lohnarbeiter, viele sind kleine Beamte oder Krämer. Mit
den Verkäufern verfälschter Lebensbedürfnisse der untern Klasse — die wohl¬
habende leidet daran nicht, sie kauft sich echte Waare — gehen infolge des
1,3.18862 lÄirö der Freihändler die Verfertiger schädlicher oder doch nicht preis¬
werter Pillen und Tränkchen und eine Menge ungeprüfter Apotheker und
Droguistcn Hand in Hand. Aber was kümmert das den Carl, er fährt fort,
zu prahlen: Wir kaufen auf dem wohlfeilsten Markte und verkaufen auf dem
teuersten. Und so sagt er im allgemeinen mit geheuchelter Philosophie: „Laßt
uns in Ruhe, laßt uns arbeiten für den Erfahrungssatz, daß der Stärkere und
Klügere die Schwächeren und Beschränkteren überlebt, der Reiche den Armen
aussaugt; das Gesetz, der Staat darf der Natur die Wege nicht zudämmen.
Gehen die Kleinen dabei zu Grunde, so stehen doch die Großen, die immer als
die Bessern zu gelten haben, in der Freihandelshalle zu Manchester dick und fett
vor uns und führen die lieben Ihrigen Sonntags gewissenhaft in die Kirche."

Whitmcm kommt in dem Kapitel, in welchem er sich mit diesem und ähn¬
lichem Carl beschäftigt, zuletzt auch auf die blinden Sympathien der englischen
liberalen und radikalen Doktrinäre und ihre Antipathien in der auswärtigen
Politik zu sprechen, über denen sie die Interessen des eignen Landes vergessen.
Er sagt da, zuweilen recht verständig, zuweilen allerdings weniger beifallswert:
„Statt einen toten Frosch zu galvanisiren, indem wir mit Frankreich liebäugeln,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202649"/>
          <fw type="header" place="top"> Gin böser Geist im heutigen England.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2037"> Unter den Handelsgrundsätzen, welche dazu beigetragen haben, England zu<lb/>
dem zu machen, was es gegenwärtig ist, ist der Pferdefuß des Teufels Carl<lb/>
leicht zu erkennen. Man ist nicht damit zufrieden gewesen, den Freihandel als<lb/>
eine dem eignen Bedürfnisse entsprechende Einrichtung zu besitzen, sondern hat<lb/>
ihn als Schiboleth. als eine Art von Wundermedizin zu allgemeiner Anwendung<lb/>
empfohlen. Agitationsredner versetzen ihre Zuhörer in Verzückung durch Zahlen¬<lb/>
beweise, welche zeigen sollen, wie viel besser es durch ihn um das Volk stehe<lb/>
als früher, und die guten Leute übersehen, daß sie jetzt zwar mehr Geld ver¬<lb/>
dienen, das Geld aber weniger wert ist, und daß Völker, welche der Freihandel<lb/>
nicht bereichert, ebenfalls jetzt wohlhabender sind als vordem. Die einfältige<lb/>
Menge jubelt über die Phrase der Agitatoren vom &#x201E;freien Frühstückstische,"<lb/>
den man ihrer Predigt verdanke, aber der Carl der Herren verblendet sie über<lb/>
die ungeheure Menge von Nahrungsmittelverfälschungeu in England, welche<lb/>
dieses wirtschaftliche Evangelium mit seinem I^issW taire verschuldet hat. John<lb/>
Bright charakterisirt die Verfälschungen nur als eine unvermeidliche, wo nicht<lb/>
billige und erlaubte Form der Konkurrenz, die auf sie gesetzten geringen Strafen<lb/>
schrecken nicht ab, und die Folge ist eine Vergiftung der untern Klassen, vor¬<lb/>
züglich im Bereiche der geistigen Getränke. Während der Freihandel ferner<lb/>
die höhere Mittelklasse befähigt, Reichtümer zu erwerben, bewirkt er mittelbar<lb/>
ein Steigen der Lohne und setzt so die Massen in den Stand, sich manche<lb/>
Lebensbedürfnisse leichter zu verschaffen, nur sind sie eben vielfach verfälscht,<lb/>
auch sind nicht alle Lohnarbeiter, viele sind kleine Beamte oder Krämer. Mit<lb/>
den Verkäufern verfälschter Lebensbedürfnisse der untern Klasse &#x2014; die wohl¬<lb/>
habende leidet daran nicht, sie kauft sich echte Waare &#x2014; gehen infolge des<lb/>
1,3.18862 lÄirö der Freihändler die Verfertiger schädlicher oder doch nicht preis¬<lb/>
werter Pillen und Tränkchen und eine Menge ungeprüfter Apotheker und<lb/>
Droguistcn Hand in Hand. Aber was kümmert das den Carl, er fährt fort,<lb/>
zu prahlen: Wir kaufen auf dem wohlfeilsten Markte und verkaufen auf dem<lb/>
teuersten. Und so sagt er im allgemeinen mit geheuchelter Philosophie: &#x201E;Laßt<lb/>
uns in Ruhe, laßt uns arbeiten für den Erfahrungssatz, daß der Stärkere und<lb/>
Klügere die Schwächeren und Beschränkteren überlebt, der Reiche den Armen<lb/>
aussaugt; das Gesetz, der Staat darf der Natur die Wege nicht zudämmen.<lb/>
Gehen die Kleinen dabei zu Grunde, so stehen doch die Großen, die immer als<lb/>
die Bessern zu gelten haben, in der Freihandelshalle zu Manchester dick und fett<lb/>
vor uns und führen die lieben Ihrigen Sonntags gewissenhaft in die Kirche."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2038" next="#ID_2039"> Whitmcm kommt in dem Kapitel, in welchem er sich mit diesem und ähn¬<lb/>
lichem Carl beschäftigt, zuletzt auch auf die blinden Sympathien der englischen<lb/>
liberalen und radikalen Doktrinäre und ihre Antipathien in der auswärtigen<lb/>
Politik zu sprechen, über denen sie die Interessen des eignen Landes vergessen.<lb/>
Er sagt da, zuweilen recht verständig, zuweilen allerdings weniger beifallswert:<lb/>
&#x201E;Statt einen toten Frosch zu galvanisiren, indem wir mit Frankreich liebäugeln,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0550] Gin böser Geist im heutigen England. Unter den Handelsgrundsätzen, welche dazu beigetragen haben, England zu dem zu machen, was es gegenwärtig ist, ist der Pferdefuß des Teufels Carl leicht zu erkennen. Man ist nicht damit zufrieden gewesen, den Freihandel als eine dem eignen Bedürfnisse entsprechende Einrichtung zu besitzen, sondern hat ihn als Schiboleth. als eine Art von Wundermedizin zu allgemeiner Anwendung empfohlen. Agitationsredner versetzen ihre Zuhörer in Verzückung durch Zahlen¬ beweise, welche zeigen sollen, wie viel besser es durch ihn um das Volk stehe als früher, und die guten Leute übersehen, daß sie jetzt zwar mehr Geld ver¬ dienen, das Geld aber weniger wert ist, und daß Völker, welche der Freihandel nicht bereichert, ebenfalls jetzt wohlhabender sind als vordem. Die einfältige Menge jubelt über die Phrase der Agitatoren vom „freien Frühstückstische," den man ihrer Predigt verdanke, aber der Carl der Herren verblendet sie über die ungeheure Menge von Nahrungsmittelverfälschungeu in England, welche dieses wirtschaftliche Evangelium mit seinem I^issW taire verschuldet hat. John Bright charakterisirt die Verfälschungen nur als eine unvermeidliche, wo nicht billige und erlaubte Form der Konkurrenz, die auf sie gesetzten geringen Strafen schrecken nicht ab, und die Folge ist eine Vergiftung der untern Klassen, vor¬ züglich im Bereiche der geistigen Getränke. Während der Freihandel ferner die höhere Mittelklasse befähigt, Reichtümer zu erwerben, bewirkt er mittelbar ein Steigen der Lohne und setzt so die Massen in den Stand, sich manche Lebensbedürfnisse leichter zu verschaffen, nur sind sie eben vielfach verfälscht, auch sind nicht alle Lohnarbeiter, viele sind kleine Beamte oder Krämer. Mit den Verkäufern verfälschter Lebensbedürfnisse der untern Klasse — die wohl¬ habende leidet daran nicht, sie kauft sich echte Waare — gehen infolge des 1,3.18862 lÄirö der Freihändler die Verfertiger schädlicher oder doch nicht preis¬ werter Pillen und Tränkchen und eine Menge ungeprüfter Apotheker und Droguistcn Hand in Hand. Aber was kümmert das den Carl, er fährt fort, zu prahlen: Wir kaufen auf dem wohlfeilsten Markte und verkaufen auf dem teuersten. Und so sagt er im allgemeinen mit geheuchelter Philosophie: „Laßt uns in Ruhe, laßt uns arbeiten für den Erfahrungssatz, daß der Stärkere und Klügere die Schwächeren und Beschränkteren überlebt, der Reiche den Armen aussaugt; das Gesetz, der Staat darf der Natur die Wege nicht zudämmen. Gehen die Kleinen dabei zu Grunde, so stehen doch die Großen, die immer als die Bessern zu gelten haben, in der Freihandelshalle zu Manchester dick und fett vor uns und führen die lieben Ihrigen Sonntags gewissenhaft in die Kirche." Whitmcm kommt in dem Kapitel, in welchem er sich mit diesem und ähn¬ lichem Carl beschäftigt, zuletzt auch auf die blinden Sympathien der englischen liberalen und radikalen Doktrinäre und ihre Antipathien in der auswärtigen Politik zu sprechen, über denen sie die Interessen des eignen Landes vergessen. Er sagt da, zuweilen recht verständig, zuweilen allerdings weniger beifallswert: „Statt einen toten Frosch zu galvanisiren, indem wir mit Frankreich liebäugeln,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/550
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/550>, abgerufen am 27.06.2024.