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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gin böser Geist im heutigen Lngland,

bittere Feind alles Scheinwesens, der immer von heißem Durste nach Wahrheit
und Wirklichkeit erfüllte Geist, rufen schmerzlich aus: "Carl, du Fluch unsrer
Nation!" Der Carl verbindet sich wie durch Wahlverwandtschaft gern mit
Pharisäertum, ist aber nicht bloß Pharisäertum. Er ist ferner nicht bloß
Heuchelei, nicht grobe Verlogenheit; denn er lügt in der Regel nicht geradezu,
sondern zieht es vor, die Wahrheit zu umgehen, ihr auszuweichen, wie der
Vogel Strauß vor einem nahenden Feinde den Kopf vor ihr zu verstecken. Er
ist keineswegs dasselbe wie die konventionellen Lügen der modernen Gesellschaft
im allgemeinen, sondern er trifft nur mit einigen derselben überein. Er ist
wesentlich englisch, ein englisch-protestantischer Geist, obwohl gänzlich ungebunden
durch irgend ein Dogma oder Bekenntnis. Der Pharisäismus ist stets mit
einem gewissen Maße von Dummheit, stets mit einem beschränkten Gesichts¬
kreise verbunden. Der Carl läßt sich als "schlaue Affektation sittlicher Über¬
legenheit" erklären, "welche durch lauge Praxis zu einer Affektation jeder Form
konventioneller Vortrefflichkeit geworden ist," oder, wie es Whitmcm anderswo
ausdrückt: "er ist die Folge einer Mentalrcservation, welche die Wahrheitsliebe,
vielleicht unbewußt, in ihren tiefsten Wurzeln zerfrißt und uns nach und nach
unfähig macht, etwas andres als uns selbst und unsre materiellen Interessen
und selbst diese nur nach ihren gemeinsten Seiten zu sehen. Sie entzieht uns
so erfolgreich das Tageslicht, daß wir allmählich dahin kommen, die schädliche
Finsternis, die sie schafft, vorzuziehen." Carlyle drückt sich ähnlich aus: ihm
war Carl die Kunst, die Dinge scheinen zu lassen, was sie nicht sind, eine Kunst
so tötlicher Art, daß sie die, welche sie üben, bis in die Seele hinein ertötet,
indem sie sie über das Stadium bewußter Lüge hinaus zu einem Glauben an
ihre eignen Wahnvorstellungen führt und sie zu dem deutbar elendesten Zustande
herunterbringt, dem, wo man aufrichtig unaufrichtig ist.

Der Ausdruck Carl bezeichnet also UnWahrhaftigkeit mit dem Gefühle,
wahr zu reden oder zu sein, Täuschung andrer, die zugleich Selbsttäuschung ist.
Dieser Carl wird dem heutigen Engländer angeboren oder mit der Muttermilch
eingesogen, er ist kein individuelles Erzeugnis, sondern Klassenprodukt, Her¬
kommen, Erbsünde. Die englische Mittelklasse hat unter Leitung und Mit¬
wirkung der Geistlichkeit diese lasterhafte Idiosynkrasie, der man am häufigsten
in ihrer Verkleidung in "Respektabilität" begegnet, so in Aufnahme und Übung
gebracht, daß ihr auch die vornehme Welt Tribut zahlt, während die Armen
unabänderlich darunter leiden. Denn es kommt großenteils von dem Mangel
an wahrem Mitgefühl mit diesen weniger vom Glücke begünstigten Ständen,
der bei jener Klasse herrscht und der die Armut uicht als Mißgeschick, sondern als
Verbrechen betrachtet, wenn die Armen in England wie durch eine Schranke von
den Wohlhabenden abgeschlossen sind -- eine Jsolirung, welche eine der Haupt¬
ursachen ihrer verzweifelnden Vertiertheit, Unwissenheit und Verschnapstheit ist.

Welchen außergewöhnlichen Umständen ist um die Schuld an diesen


Gin böser Geist im heutigen Lngland,

bittere Feind alles Scheinwesens, der immer von heißem Durste nach Wahrheit
und Wirklichkeit erfüllte Geist, rufen schmerzlich aus: „Carl, du Fluch unsrer
Nation!" Der Carl verbindet sich wie durch Wahlverwandtschaft gern mit
Pharisäertum, ist aber nicht bloß Pharisäertum. Er ist ferner nicht bloß
Heuchelei, nicht grobe Verlogenheit; denn er lügt in der Regel nicht geradezu,
sondern zieht es vor, die Wahrheit zu umgehen, ihr auszuweichen, wie der
Vogel Strauß vor einem nahenden Feinde den Kopf vor ihr zu verstecken. Er
ist keineswegs dasselbe wie die konventionellen Lügen der modernen Gesellschaft
im allgemeinen, sondern er trifft nur mit einigen derselben überein. Er ist
wesentlich englisch, ein englisch-protestantischer Geist, obwohl gänzlich ungebunden
durch irgend ein Dogma oder Bekenntnis. Der Pharisäismus ist stets mit
einem gewissen Maße von Dummheit, stets mit einem beschränkten Gesichts¬
kreise verbunden. Der Carl läßt sich als „schlaue Affektation sittlicher Über¬
legenheit" erklären, „welche durch lauge Praxis zu einer Affektation jeder Form
konventioneller Vortrefflichkeit geworden ist," oder, wie es Whitmcm anderswo
ausdrückt: „er ist die Folge einer Mentalrcservation, welche die Wahrheitsliebe,
vielleicht unbewußt, in ihren tiefsten Wurzeln zerfrißt und uns nach und nach
unfähig macht, etwas andres als uns selbst und unsre materiellen Interessen
und selbst diese nur nach ihren gemeinsten Seiten zu sehen. Sie entzieht uns
so erfolgreich das Tageslicht, daß wir allmählich dahin kommen, die schädliche
Finsternis, die sie schafft, vorzuziehen." Carlyle drückt sich ähnlich aus: ihm
war Carl die Kunst, die Dinge scheinen zu lassen, was sie nicht sind, eine Kunst
so tötlicher Art, daß sie die, welche sie üben, bis in die Seele hinein ertötet,
indem sie sie über das Stadium bewußter Lüge hinaus zu einem Glauben an
ihre eignen Wahnvorstellungen führt und sie zu dem deutbar elendesten Zustande
herunterbringt, dem, wo man aufrichtig unaufrichtig ist.

Der Ausdruck Carl bezeichnet also UnWahrhaftigkeit mit dem Gefühle,
wahr zu reden oder zu sein, Täuschung andrer, die zugleich Selbsttäuschung ist.
Dieser Carl wird dem heutigen Engländer angeboren oder mit der Muttermilch
eingesogen, er ist kein individuelles Erzeugnis, sondern Klassenprodukt, Her¬
kommen, Erbsünde. Die englische Mittelklasse hat unter Leitung und Mit¬
wirkung der Geistlichkeit diese lasterhafte Idiosynkrasie, der man am häufigsten
in ihrer Verkleidung in „Respektabilität" begegnet, so in Aufnahme und Übung
gebracht, daß ihr auch die vornehme Welt Tribut zahlt, während die Armen
unabänderlich darunter leiden. Denn es kommt großenteils von dem Mangel
an wahrem Mitgefühl mit diesen weniger vom Glücke begünstigten Ständen,
der bei jener Klasse herrscht und der die Armut uicht als Mißgeschick, sondern als
Verbrechen betrachtet, wenn die Armen in England wie durch eine Schranke von
den Wohlhabenden abgeschlossen sind — eine Jsolirung, welche eine der Haupt¬
ursachen ihrer verzweifelnden Vertiertheit, Unwissenheit und Verschnapstheit ist.

Welchen außergewöhnlichen Umständen ist um die Schuld an diesen


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[0542] Gin böser Geist im heutigen Lngland, bittere Feind alles Scheinwesens, der immer von heißem Durste nach Wahrheit und Wirklichkeit erfüllte Geist, rufen schmerzlich aus: „Carl, du Fluch unsrer Nation!" Der Carl verbindet sich wie durch Wahlverwandtschaft gern mit Pharisäertum, ist aber nicht bloß Pharisäertum. Er ist ferner nicht bloß Heuchelei, nicht grobe Verlogenheit; denn er lügt in der Regel nicht geradezu, sondern zieht es vor, die Wahrheit zu umgehen, ihr auszuweichen, wie der Vogel Strauß vor einem nahenden Feinde den Kopf vor ihr zu verstecken. Er ist keineswegs dasselbe wie die konventionellen Lügen der modernen Gesellschaft im allgemeinen, sondern er trifft nur mit einigen derselben überein. Er ist wesentlich englisch, ein englisch-protestantischer Geist, obwohl gänzlich ungebunden durch irgend ein Dogma oder Bekenntnis. Der Pharisäismus ist stets mit einem gewissen Maße von Dummheit, stets mit einem beschränkten Gesichts¬ kreise verbunden. Der Carl läßt sich als „schlaue Affektation sittlicher Über¬ legenheit" erklären, „welche durch lauge Praxis zu einer Affektation jeder Form konventioneller Vortrefflichkeit geworden ist," oder, wie es Whitmcm anderswo ausdrückt: „er ist die Folge einer Mentalrcservation, welche die Wahrheitsliebe, vielleicht unbewußt, in ihren tiefsten Wurzeln zerfrißt und uns nach und nach unfähig macht, etwas andres als uns selbst und unsre materiellen Interessen und selbst diese nur nach ihren gemeinsten Seiten zu sehen. Sie entzieht uns so erfolgreich das Tageslicht, daß wir allmählich dahin kommen, die schädliche Finsternis, die sie schafft, vorzuziehen." Carlyle drückt sich ähnlich aus: ihm war Carl die Kunst, die Dinge scheinen zu lassen, was sie nicht sind, eine Kunst so tötlicher Art, daß sie die, welche sie üben, bis in die Seele hinein ertötet, indem sie sie über das Stadium bewußter Lüge hinaus zu einem Glauben an ihre eignen Wahnvorstellungen führt und sie zu dem deutbar elendesten Zustande herunterbringt, dem, wo man aufrichtig unaufrichtig ist. Der Ausdruck Carl bezeichnet also UnWahrhaftigkeit mit dem Gefühle, wahr zu reden oder zu sein, Täuschung andrer, die zugleich Selbsttäuschung ist. Dieser Carl wird dem heutigen Engländer angeboren oder mit der Muttermilch eingesogen, er ist kein individuelles Erzeugnis, sondern Klassenprodukt, Her¬ kommen, Erbsünde. Die englische Mittelklasse hat unter Leitung und Mit¬ wirkung der Geistlichkeit diese lasterhafte Idiosynkrasie, der man am häufigsten in ihrer Verkleidung in „Respektabilität" begegnet, so in Aufnahme und Übung gebracht, daß ihr auch die vornehme Welt Tribut zahlt, während die Armen unabänderlich darunter leiden. Denn es kommt großenteils von dem Mangel an wahrem Mitgefühl mit diesen weniger vom Glücke begünstigten Ständen, der bei jener Klasse herrscht und der die Armut uicht als Mißgeschick, sondern als Verbrechen betrachtet, wenn die Armen in England wie durch eine Schranke von den Wohlhabenden abgeschlossen sind — eine Jsolirung, welche eine der Haupt¬ ursachen ihrer verzweifelnden Vertiertheit, Unwissenheit und Verschnapstheit ist. Welchen außergewöhnlichen Umständen ist um die Schuld an diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/542>, abgerufen am 28.09.2024.