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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Das Sozialistmgesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

unzureichend oder für die freie Bewegung aller übrigen Parteien gefährlich
gewesen sein. Der Beweis hierfür liegt schon in dem Versuche des Jahres 1876.
Als man damals auf dem Wege des gemeinen Rechtes vorschreiten wollte, waren
die liberalen Parteien außer sich darüber, daß ihnen ein solcher "Kautschuk¬
paragraph" als Schranke auch für ihre Thätigkeit geboten werde, während der
sozialdemokratische Agitator erklärte, daß der neue Paragraph seine Partei nicht
im geringsten kümmere.

Nicht das wahre und wirkliche liberale Interesse lag der im Frühjahre
1878 aufgestellten Ansicht, "daß nur auf dem Wege des gemeinen Rechtes vor¬
geschritten werden dürfe," zu Grunde, es war vielmehr der Satz der alten
liberalen Schablone: "Ausnahmegesetze dürfen in keinem Staate bestehen." An
diesem Satze glaubte man unbedingt festhalten zu müssen. Daß dieser Satz
seine Berechtigung verliert, sobald Ausnahmezustände im Staate obwalten, und
daß es ein Ausnahmezustand, eine Krankheit des Staatslebens ist, wenn eine
Partei besteht, welche darauf ausgeht, die gesamte Staats- und Gesellschafts¬
ordnung umzustürzen, und hierzu die großen Masse" aufbietet, zu diesem Ge¬
danken konnte man sich nicht erheben.

Wenn nun heute auf diesen Satz zurückgekommen wird, und wenn sogar
der Führer der Natioualliberalen sich denselben wieder aneignen zu müssen
geglaubt hat, so wollen wir den Vertretern dieses Gedankens von vornherein
ein Zugeständnis machen. Es ist ein Übelstand, daß über die Fortdauer des
Sozmlistengcsctzes aller zwei Jahre eine aufwiegelnde Verhandlung im Reichstage
stattfindet, welche die Sozialdemokraten dazu benutzen, um aufwiegelnde Brand¬
reden in das Volk zu werfen, die übrigen Oppositionsparteien aber, um gleich¬
falls ihren Haß gegen die Regierungen Luft zu machen, wobei namentlich
Herr Bamberger in seiner bekannten Vcrsabilität diesmal wieder gegen das
Gesetz sprach. Könnten diese widerwärtigen Verhandlungen vermieden werden,
so wäre das ein Vorteil. Wir glauben aber kaum, daß hierin der eigentliche
Grund liegt, weshalb "Rückkehr zum gemeinen Rechte" verlangt wird. Vielmehr
liegt diesem Verlangen augenscheinlich der frühere liberale Schablvnismus zu
Grunde.

Auch einen andern Beweisgrund, welcher bei diesem Verlangen stets wieder
vorgebracht wird, halten wir für durchaus hinfällig. Man sagt, das Gesetz sei
ja für kurze Zeit bestimmt gewesen und müsse deshalb jetzt endlich wieder weg¬
fallen. Kein Verständiger hat aber ernstlich geglaubt, daß das Gesetz binnen
wenigen Jahren seine Aufgabe erfüllen werde. Es wäre lächerlich gewesen, es
zu erlassen, um es nach kurzer Zeit wieder aufzuheben. Die Beschränkung des
Erlasses auf Zeit hatte eine ganz andre Bedeutung. Sie sollte dem Reichstage
eine Bürgschaft geben, daß mit den weitgehenden Vollmachten des Gesetzes von
den Regierungen kein Mißbrauch geübt werde. So lange der Reichstag dieser
Bürgschaft zu bedürfen glaubt -- und wir wollen in dieser Beziehung gar


Das Sozialistmgesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

unzureichend oder für die freie Bewegung aller übrigen Parteien gefährlich
gewesen sein. Der Beweis hierfür liegt schon in dem Versuche des Jahres 1876.
Als man damals auf dem Wege des gemeinen Rechtes vorschreiten wollte, waren
die liberalen Parteien außer sich darüber, daß ihnen ein solcher „Kautschuk¬
paragraph" als Schranke auch für ihre Thätigkeit geboten werde, während der
sozialdemokratische Agitator erklärte, daß der neue Paragraph seine Partei nicht
im geringsten kümmere.

Nicht das wahre und wirkliche liberale Interesse lag der im Frühjahre
1878 aufgestellten Ansicht, „daß nur auf dem Wege des gemeinen Rechtes vor¬
geschritten werden dürfe," zu Grunde, es war vielmehr der Satz der alten
liberalen Schablone: „Ausnahmegesetze dürfen in keinem Staate bestehen." An
diesem Satze glaubte man unbedingt festhalten zu müssen. Daß dieser Satz
seine Berechtigung verliert, sobald Ausnahmezustände im Staate obwalten, und
daß es ein Ausnahmezustand, eine Krankheit des Staatslebens ist, wenn eine
Partei besteht, welche darauf ausgeht, die gesamte Staats- und Gesellschafts¬
ordnung umzustürzen, und hierzu die großen Masse» aufbietet, zu diesem Ge¬
danken konnte man sich nicht erheben.

Wenn nun heute auf diesen Satz zurückgekommen wird, und wenn sogar
der Führer der Natioualliberalen sich denselben wieder aneignen zu müssen
geglaubt hat, so wollen wir den Vertretern dieses Gedankens von vornherein
ein Zugeständnis machen. Es ist ein Übelstand, daß über die Fortdauer des
Sozmlistengcsctzes aller zwei Jahre eine aufwiegelnde Verhandlung im Reichstage
stattfindet, welche die Sozialdemokraten dazu benutzen, um aufwiegelnde Brand¬
reden in das Volk zu werfen, die übrigen Oppositionsparteien aber, um gleich¬
falls ihren Haß gegen die Regierungen Luft zu machen, wobei namentlich
Herr Bamberger in seiner bekannten Vcrsabilität diesmal wieder gegen das
Gesetz sprach. Könnten diese widerwärtigen Verhandlungen vermieden werden,
so wäre das ein Vorteil. Wir glauben aber kaum, daß hierin der eigentliche
Grund liegt, weshalb „Rückkehr zum gemeinen Rechte" verlangt wird. Vielmehr
liegt diesem Verlangen augenscheinlich der frühere liberale Schablvnismus zu
Grunde.

Auch einen andern Beweisgrund, welcher bei diesem Verlangen stets wieder
vorgebracht wird, halten wir für durchaus hinfällig. Man sagt, das Gesetz sei
ja für kurze Zeit bestimmt gewesen und müsse deshalb jetzt endlich wieder weg¬
fallen. Kein Verständiger hat aber ernstlich geglaubt, daß das Gesetz binnen
wenigen Jahren seine Aufgabe erfüllen werde. Es wäre lächerlich gewesen, es
zu erlassen, um es nach kurzer Zeit wieder aufzuheben. Die Beschränkung des
Erlasses auf Zeit hatte eine ganz andre Bedeutung. Sie sollte dem Reichstage
eine Bürgschaft geben, daß mit den weitgehenden Vollmachten des Gesetzes von
den Regierungen kein Mißbrauch geübt werde. So lange der Reichstag dieser
Bürgschaft zu bedürfen glaubt — und wir wollen in dieser Beziehung gar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/532>, abgerufen am 27.06.2024.