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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der wahrhafte Friede.

Völker zu Gericht sitzt und früher oder später doch einmal durch einen "Willens¬
vollstrecker" die Anerkennung seiner Urtcilssprüche erzwingt. Wir verwahren
uns hierbei nur, als ob wir unter diesem Areopag etwa die sogenannte "öffent¬
liche Meinung" verstünden und unter seinem Willensvollstrecker die "sechste
Großmacht," die Presse.

Kriege sind keine zufälligen Erscheinungen, die man einfach auf Laune und
Willkür eines Einzelnen zurückführen könnte, und sie sind es in diesem Sinne
niemals gewesen. Diejenigen, die noch heute ihre Rechnung dabei finden, hinter
einem Kriege nur den Fürsten oder das Kabinet zu sehen, das ihn führt und
das bloß Ruhe zu halten brauchte, um alles in schönster Ordnung zu lassen,
müßten erst erklären, wo in aller Welt diese Einzelnen nur die Möglichkeit
hernehmen, dies gewagte Spiel ihres Übermutes so unbefangen und natürlich
zu spielen. Die Frage nach den Entstchungsarten der Kriege bildet von jeher
eines der hauptsächlichsten Kapitel des Völkerrechts -- schon vor seiner Kon-
stituiruug als Wissenschaft --, aber niemand möchte sich anheischig machen, es
völlig zu erschöpfen. Mau unterscheidet hier bekanntlich äußere Veranlassungen
und innere Gründe, aber man kann diese höchstens in sehr weite Klassen bringen.
Denn im einzelnen ändern sie sich stets mit den Verhältnissen und Zusammen¬
setzungen ihrer Faktoren in der menschlichen Gesellschaft, der Völker. Und
ihr völliges Verschwinden ist ebenso wenig jemals abzusehen, als dasjenige
eben dieser Faktoren, der von Natur nach Macht, Interesse, Eigenart unter-
schiednem Völker. Die Träumer von einer ewig friedlichen Staatenrepublik hat
erst neuerdings der amerikanische Krieg auf ihrem eigensten Boden unsanft zur
Besinnung gebracht. Ebenso wenig lassen sich Gründe und Veranlassungen zum
Kriege jemals absolut sicher im voraus berechnen. Denn nach einem bekannten
Witzworte tritt in der Politik von drei Möglichkeiten immer die vierte ein.
Aber annähernd bestimmen und somit nach menschlichem Maße beherrschen lassen
sie sich doch auf Grund einer reichen Erfahrung und jenes gottbegnadeter Tief¬
blickes, der in der Staatskunst wie in jeder andern geistigen Thätigkeit Genius
genannt wird, ohne daß man ihn weiter erklären kann. Mit keiner der geistigen
Thätigkeiten hat man die Kunst des Staatsmannes von jeher lieber verglichen
als mit der Heil- und Steuerkunst. Der kranke Staatskörper, dem ein kundiger,
geschickter Arzt zu neuem Leben verhilft, und das gefährdete Staatsschiff, vom
erprobten Steuermann durch Klippen und Riffe, gegen Sturm und brüllende
See glücklich durchgeleitet, sind hier stehende Bilder. Kriege, politische Ver¬
wirrungen erscheinen demnach als zufällige, nicht tiefer zu erfassende Unregel¬
mäßigkeiten, Störungen im Völkerleben, eben wie Krankheiten im animalischen,
Unwetter und Unorte im natürlichen Dasein, welche das von jenen bedingte
Einzelleben als Leiden und Gefahr (des Unterganges) empfindet. Dabei wird
jedoch ein Allerwichtigstes übersehen, welches geeignet ist, die Angelegenheit in
ein ganz andres, reineres Licht zu rücken. Kriege sind nämlich für den Menschen


Der wahrhafte Friede.

Völker zu Gericht sitzt und früher oder später doch einmal durch einen „Willens¬
vollstrecker" die Anerkennung seiner Urtcilssprüche erzwingt. Wir verwahren
uns hierbei nur, als ob wir unter diesem Areopag etwa die sogenannte „öffent¬
liche Meinung" verstünden und unter seinem Willensvollstrecker die „sechste
Großmacht," die Presse.

Kriege sind keine zufälligen Erscheinungen, die man einfach auf Laune und
Willkür eines Einzelnen zurückführen könnte, und sie sind es in diesem Sinne
niemals gewesen. Diejenigen, die noch heute ihre Rechnung dabei finden, hinter
einem Kriege nur den Fürsten oder das Kabinet zu sehen, das ihn führt und
das bloß Ruhe zu halten brauchte, um alles in schönster Ordnung zu lassen,
müßten erst erklären, wo in aller Welt diese Einzelnen nur die Möglichkeit
hernehmen, dies gewagte Spiel ihres Übermutes so unbefangen und natürlich
zu spielen. Die Frage nach den Entstchungsarten der Kriege bildet von jeher
eines der hauptsächlichsten Kapitel des Völkerrechts — schon vor seiner Kon-
stituiruug als Wissenschaft —, aber niemand möchte sich anheischig machen, es
völlig zu erschöpfen. Mau unterscheidet hier bekanntlich äußere Veranlassungen
und innere Gründe, aber man kann diese höchstens in sehr weite Klassen bringen.
Denn im einzelnen ändern sie sich stets mit den Verhältnissen und Zusammen¬
setzungen ihrer Faktoren in der menschlichen Gesellschaft, der Völker. Und
ihr völliges Verschwinden ist ebenso wenig jemals abzusehen, als dasjenige
eben dieser Faktoren, der von Natur nach Macht, Interesse, Eigenart unter-
schiednem Völker. Die Träumer von einer ewig friedlichen Staatenrepublik hat
erst neuerdings der amerikanische Krieg auf ihrem eigensten Boden unsanft zur
Besinnung gebracht. Ebenso wenig lassen sich Gründe und Veranlassungen zum
Kriege jemals absolut sicher im voraus berechnen. Denn nach einem bekannten
Witzworte tritt in der Politik von drei Möglichkeiten immer die vierte ein.
Aber annähernd bestimmen und somit nach menschlichem Maße beherrschen lassen
sie sich doch auf Grund einer reichen Erfahrung und jenes gottbegnadeter Tief¬
blickes, der in der Staatskunst wie in jeder andern geistigen Thätigkeit Genius
genannt wird, ohne daß man ihn weiter erklären kann. Mit keiner der geistigen
Thätigkeiten hat man die Kunst des Staatsmannes von jeher lieber verglichen
als mit der Heil- und Steuerkunst. Der kranke Staatskörper, dem ein kundiger,
geschickter Arzt zu neuem Leben verhilft, und das gefährdete Staatsschiff, vom
erprobten Steuermann durch Klippen und Riffe, gegen Sturm und brüllende
See glücklich durchgeleitet, sind hier stehende Bilder. Kriege, politische Ver¬
wirrungen erscheinen demnach als zufällige, nicht tiefer zu erfassende Unregel¬
mäßigkeiten, Störungen im Völkerleben, eben wie Krankheiten im animalischen,
Unwetter und Unorte im natürlichen Dasein, welche das von jenen bedingte
Einzelleben als Leiden und Gefahr (des Unterganges) empfindet. Dabei wird
jedoch ein Allerwichtigstes übersehen, welches geeignet ist, die Angelegenheit in
ein ganz andres, reineres Licht zu rücken. Kriege sind nämlich für den Menschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/506>, abgerufen am 28.09.2024.