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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Nationalliberalen und die Deutschfreisinnigen.

wenn ein Geschwvrnenverdikt die menschliche Gesellschaft in Zukunft vor mensch¬
lichen Tigern bewahren will, so bekommen diese für ihre Kriegsweise "die fehlende
Weihe." Leute, die dem Grundsatze Moses huldigen: "Wenn man die heutige
Welt nicht aus den Angeln heben kann, so wird man sie mit Dynamik sprengen,"
Leute, die "keinen Respekt vor irgend einer Sache oder Person haben," sondern
"ohne weitern Lärm zum thatkräftigen Handeln schreiten," Leute, die in jedem
gesitteten Menschen "eine Ordnungsbestie" sehen, die zu vernichten ist, sobald
"wir die Möglichkeit erspähen, sie zu vernichten," solche Subjekte "im Namen
der Menschlichkeit" oder auch wegen juristischer Zwirnsfaden ihrem verdienten
Schicksale entreißen wollen, zeigt eine zweifellose Verirrung aller sittlichen Be¬
griffe, in der selbst die Erkenntnis erstorben ist, daß es das erste Gebot der
Menschlichkeit ist, die Unschuldigen vor Mord zu behüten. Sagen wir zu viel,
wenn wir die Nationalliberalen für zu gut halten, als daß sie mit diesem
"Deutschfreisinn" je zusammen arbeiten könnten?

Das sittliche Pathos, mit dem die Volkszeitung den Beweis der Schuld
in dem Anarchisten fall nicht erbracht sah, war ungefähr vou derselben Güte
wie das, welches sie in dem Caffarel-Limousin-Wilson-Skandal entwickelte, als
sie in der Anfwühlung dieses Schmutzes eine yochanzuerkeunende Reaktion des
demokratischen Gewissens gegen die vorangegangene Fäulnis des Kaiserreiches
sah, oder auch, wie sie sich wiederum ausdrückte, "der unverdorbenen Plebejer
der Republik gegen die aristokratischen Neste des Kaisertums." Der alte Demo¬
krat Grevy gehört wahrscheinlich auch zu den verfaulten Aristokraten des
Kaiserreichs! Daß sie alle von derselben Sorte sind, Kaiserliche wie Republi¬
kaner, die in diesem Prozesse eine Rolle spielen, daß die republikanischen Ge¬
richte, sowie die Polizei und die Negierung Grevys um keinen Deut besser da¬
stehen als die napoleonischen, ist der Volkszeitung eine unliebsame Thatsache,
die womöglich weggeleugnet werden muß. Später kam ihr einmal im Verlaufe
dieses ganzen Handels der Gedanke, daß doch die französische Republik "von
dem Bilde eines europäischen Musterstaates noch recht sehr weit entfernt" sei.
Sie trage mehr "die Etikette eines demokratischen Staatswesens." Aber, meint
das edle Blatt, wenn die Franzosen in derselben Weise herüberschießen wollten,
wie wir hinüberschießen, so wäre es doch sehr fraglich, wer dabei den kürzern
zöge. Darum will es nicht, daß wir uns als "pharisäische Tugendhelden über
die Franzosen aufspielen." Denn das Vergnügen ist gar nicht so unschuldig,
in Wirklichkeit ist es nur eine Waffe der Reaktion. "Die Heranziehung des
Größenwahnes, als ob eine bestimmte Nation ein auscrwcihltes und bevorzugtes
Volk sei, muß eben diese Nation bis in Mark und Knochen verderben." Die
Volkszeitung kann das allerdings ganz genau wissen, da sie mit dem "aus¬
erwählten Volke" auf sehr vertrauten, Fuße steht. Die Franzosen dagegen sind
"besser als ihr Ruf." Die große Masse des französischen Volkes ist an den
Skandalen bei ihnen "mindestens nicht entfernt ebenso beteiligt, wie beispielsweise


Die Nationalliberalen und die Deutschfreisinnigen.

wenn ein Geschwvrnenverdikt die menschliche Gesellschaft in Zukunft vor mensch¬
lichen Tigern bewahren will, so bekommen diese für ihre Kriegsweise „die fehlende
Weihe." Leute, die dem Grundsatze Moses huldigen: „Wenn man die heutige
Welt nicht aus den Angeln heben kann, so wird man sie mit Dynamik sprengen,"
Leute, die „keinen Respekt vor irgend einer Sache oder Person haben," sondern
„ohne weitern Lärm zum thatkräftigen Handeln schreiten," Leute, die in jedem
gesitteten Menschen „eine Ordnungsbestie" sehen, die zu vernichten ist, sobald
„wir die Möglichkeit erspähen, sie zu vernichten," solche Subjekte „im Namen
der Menschlichkeit" oder auch wegen juristischer Zwirnsfaden ihrem verdienten
Schicksale entreißen wollen, zeigt eine zweifellose Verirrung aller sittlichen Be¬
griffe, in der selbst die Erkenntnis erstorben ist, daß es das erste Gebot der
Menschlichkeit ist, die Unschuldigen vor Mord zu behüten. Sagen wir zu viel,
wenn wir die Nationalliberalen für zu gut halten, als daß sie mit diesem
„Deutschfreisinn" je zusammen arbeiten könnten?

Das sittliche Pathos, mit dem die Volkszeitung den Beweis der Schuld
in dem Anarchisten fall nicht erbracht sah, war ungefähr vou derselben Güte
wie das, welches sie in dem Caffarel-Limousin-Wilson-Skandal entwickelte, als
sie in der Anfwühlung dieses Schmutzes eine yochanzuerkeunende Reaktion des
demokratischen Gewissens gegen die vorangegangene Fäulnis des Kaiserreiches
sah, oder auch, wie sie sich wiederum ausdrückte, „der unverdorbenen Plebejer
der Republik gegen die aristokratischen Neste des Kaisertums." Der alte Demo¬
krat Grevy gehört wahrscheinlich auch zu den verfaulten Aristokraten des
Kaiserreichs! Daß sie alle von derselben Sorte sind, Kaiserliche wie Republi¬
kaner, die in diesem Prozesse eine Rolle spielen, daß die republikanischen Ge¬
richte, sowie die Polizei und die Negierung Grevys um keinen Deut besser da¬
stehen als die napoleonischen, ist der Volkszeitung eine unliebsame Thatsache,
die womöglich weggeleugnet werden muß. Später kam ihr einmal im Verlaufe
dieses ganzen Handels der Gedanke, daß doch die französische Republik „von
dem Bilde eines europäischen Musterstaates noch recht sehr weit entfernt" sei.
Sie trage mehr „die Etikette eines demokratischen Staatswesens." Aber, meint
das edle Blatt, wenn die Franzosen in derselben Weise herüberschießen wollten,
wie wir hinüberschießen, so wäre es doch sehr fraglich, wer dabei den kürzern
zöge. Darum will es nicht, daß wir uns als „pharisäische Tugendhelden über
die Franzosen aufspielen." Denn das Vergnügen ist gar nicht so unschuldig,
in Wirklichkeit ist es nur eine Waffe der Reaktion. „Die Heranziehung des
Größenwahnes, als ob eine bestimmte Nation ein auscrwcihltes und bevorzugtes
Volk sei, muß eben diese Nation bis in Mark und Knochen verderben." Die
Volkszeitung kann das allerdings ganz genau wissen, da sie mit dem „aus¬
erwählten Volke" auf sehr vertrauten, Fuße steht. Die Franzosen dagegen sind
„besser als ihr Ruf." Die große Masse des französischen Volkes ist an den
Skandalen bei ihnen „mindestens nicht entfernt ebenso beteiligt, wie beispielsweise


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/490>, abgerufen am 20.06.2024.