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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Vie Nationalliberalm und die Dentschfreifinnigon.

ankomme." Es ist gut, daß die Bomben, welche im Mai vorigen Jahres bei
den Verurteilten mit Beschlag belegt wurden, genau denen glichen, welche auf
dem Heumarkt in Chicago geworfen worden waren und eine Anzahl Menschen
getötet hatten, und daß sie auch den amerikanischen Geschwornen eine solche
"konkrete Beteiligung" sehen ließen, daß diese es für ihr Recht, wie für ihre
Pflicht erkannten, die Unholde aus der menschlichen Gesellschaft zu entfernen.
Das amerikanische Nechtsgeftthl wurde dadurch so wenig verletzt, daß sowohl
die republikanische als die demokratische Partei in Chicago bei den im November
veranstalteten Wahlen den von den Anarchisten mit dem Tode bedrohten Richter
Gary, der das erste, durch alle Instanzen bestätigte Urteil über die sieben feigen
Mörder sprach, mit etwa 66 000 Stimmen gegen 6000 sozialistische Stimmen
als Kandidaten aufstellten. Das ist die "große Aufregung," die sich nach dem
edeln "Organ für jedermann" der amerikanischen Bevölkerung bemächtigt haben
sollte über die Verurteilung der Sieben, und die sich "leicht aus dem regen
Rechtssinn eines seit Jahrhunderten jeglicher Willkür entwöhnten und an die
strengste Beobachtung der Rechtsformen gewöhnten Volkes" erklären lasse. "Uns
Deutschen -- so wird weiter erzählt -- ist ein solcher Rechtssinn leider uoch
vielfach unverständlich, in freien Völkern ist er deshalb (?) nicht weniger eine
Macht, auf welche diese Völker stolzer sein dürfen, als auf 100000 Bajonette."
Da haft du's, liebes Deutschland, mit deinen 100 000 Bajonetten! Und wie
wunderschön ist doch der Hinweis auf die amerikanischen Rechtsformen! Die
Schliche, welche die amerikanische Rechtspflege zuläßt, die Bestechungen, die bei
den amerikanischen Gerichten vorgekommen sind in einem Maße, daß in Amerika
der Rat für richtig gehalten wird: Wenn du stehlen willst, so stiehl zwei Mil¬
lionen, eine für die Richter und eine für dich selbst; die Einschüchterungen,
denen die Geschwornen und Richter so hänfig unterliegen und die auch in
dem Anarchistenprozeß in grenzenlosem Umfange, glücklicherweise diesmal ohne
Wirkung, vorgekommen sind, scheinen der holden Unschuld des "Organs für
jedermann" eine ganz unbekannte Sache zu sein. Auch das konnte dieses Organ
in seiner "Menschlichkeit" nicht irre machen, daß die verurteilten Mörder noch
zum zweiten male einen Massenmord geplant hatten, der am Tage ihrer Hin¬
richtung stattfinden sollte und nur durch die zufällige Entdeckung der ver¬
borgnen Bomben verhindert worden war.

Die Beurteilung des Falles in Chicago ist aber auch charakteristisch für
die staatsmännischen Fähigkeiten der Gelehrten von der Volkszeitung. Auch
von politischen Nützlichkeitsstandpunkte aus sollte die Hinrichtung der Anar¬
chisten verwerflich sein, denn "die ebenso nichtswürdige als wahnsinnige Kriegs¬
weise der letzter" erhielte eine ihr bis jetzt glücklicherweise noch gänzlich fehlende
Weihe, wenn die bestehende Gesellschaft diese Kampfes weise einfach annähme."
Das freisinnige Organ sieht also in den erbarmungslosen Attentaten auf die
gesittete Gesellschaft nur eine nichtswürdige und wahnsinnige Kriegsweise, und


G>v"zbotcn I. 1888. 61
Vie Nationalliberalm und die Dentschfreifinnigon.

ankomme." Es ist gut, daß die Bomben, welche im Mai vorigen Jahres bei
den Verurteilten mit Beschlag belegt wurden, genau denen glichen, welche auf
dem Heumarkt in Chicago geworfen worden waren und eine Anzahl Menschen
getötet hatten, und daß sie auch den amerikanischen Geschwornen eine solche
„konkrete Beteiligung" sehen ließen, daß diese es für ihr Recht, wie für ihre
Pflicht erkannten, die Unholde aus der menschlichen Gesellschaft zu entfernen.
Das amerikanische Nechtsgeftthl wurde dadurch so wenig verletzt, daß sowohl
die republikanische als die demokratische Partei in Chicago bei den im November
veranstalteten Wahlen den von den Anarchisten mit dem Tode bedrohten Richter
Gary, der das erste, durch alle Instanzen bestätigte Urteil über die sieben feigen
Mörder sprach, mit etwa 66 000 Stimmen gegen 6000 sozialistische Stimmen
als Kandidaten aufstellten. Das ist die „große Aufregung," die sich nach dem
edeln „Organ für jedermann" der amerikanischen Bevölkerung bemächtigt haben
sollte über die Verurteilung der Sieben, und die sich „leicht aus dem regen
Rechtssinn eines seit Jahrhunderten jeglicher Willkür entwöhnten und an die
strengste Beobachtung der Rechtsformen gewöhnten Volkes" erklären lasse. „Uns
Deutschen — so wird weiter erzählt — ist ein solcher Rechtssinn leider uoch
vielfach unverständlich, in freien Völkern ist er deshalb (?) nicht weniger eine
Macht, auf welche diese Völker stolzer sein dürfen, als auf 100000 Bajonette."
Da haft du's, liebes Deutschland, mit deinen 100 000 Bajonetten! Und wie
wunderschön ist doch der Hinweis auf die amerikanischen Rechtsformen! Die
Schliche, welche die amerikanische Rechtspflege zuläßt, die Bestechungen, die bei
den amerikanischen Gerichten vorgekommen sind in einem Maße, daß in Amerika
der Rat für richtig gehalten wird: Wenn du stehlen willst, so stiehl zwei Mil¬
lionen, eine für die Richter und eine für dich selbst; die Einschüchterungen,
denen die Geschwornen und Richter so hänfig unterliegen und die auch in
dem Anarchistenprozeß in grenzenlosem Umfange, glücklicherweise diesmal ohne
Wirkung, vorgekommen sind, scheinen der holden Unschuld des „Organs für
jedermann" eine ganz unbekannte Sache zu sein. Auch das konnte dieses Organ
in seiner „Menschlichkeit" nicht irre machen, daß die verurteilten Mörder noch
zum zweiten male einen Massenmord geplant hatten, der am Tage ihrer Hin¬
richtung stattfinden sollte und nur durch die zufällige Entdeckung der ver¬
borgnen Bomben verhindert worden war.

Die Beurteilung des Falles in Chicago ist aber auch charakteristisch für
die staatsmännischen Fähigkeiten der Gelehrten von der Volkszeitung. Auch
von politischen Nützlichkeitsstandpunkte aus sollte die Hinrichtung der Anar¬
chisten verwerflich sein, denn „die ebenso nichtswürdige als wahnsinnige Kriegs¬
weise der letzter» erhielte eine ihr bis jetzt glücklicherweise noch gänzlich fehlende
Weihe, wenn die bestehende Gesellschaft diese Kampfes weise einfach annähme."
Das freisinnige Organ sieht also in den erbarmungslosen Attentaten auf die
gesittete Gesellschaft nur eine nichtswürdige und wahnsinnige Kriegsweise, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/489>, abgerufen am 28.09.2024.