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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Sozialdemokratie und die Schweiz,

Einerseits ist, abgesehen von den Konservativen, keine einzige Partei sich
der großen Gefahr völlig bewußt, welche die Sozialdemokratie für uns mit sich
führt. Das Höchste in dieser Beziehung leistete in offenbarer Rücksicht auf die
künftigen Wahlen wieder die sogenannte freisinnige Partei, welche nicht nur für
völlige Aufhebung des Gesetzes stimmte, sondern sogar dem Abgeordnctrn Bebel
einen Sitz in der Kommission des Reichstages zur Beratung über den Gesetz¬
entwurf verschaffte. Das wird natürlich den Eindruck auf die große Masse der
Wähler nicht verfehlen; sie sehen daraus, daß die sozialdemokratischen Grundsätze,
die man nicht erörtern, sondern bekämpfen muß, eine entgegenkommende Rücksicht
erfahren haben, und müssen denken, daß sie eine solche verdienen. Nicht minder hat
der Abgeordnete Windthorst keinen Anstand genommen, Vergleiche aus dem Kultur¬
kämpfe hervorzuziehen und die Ausnahmegesetze gegen die damals widerspenstige
Geistlichkeit ans eine gleiche Stufe zu stellen mit den Gesetzen gegen Bestre¬
bungen, als deren Ziel noch auf dem letzten Parteitage in Se. Gallen
offen die Revolution ausgesprochen wurde. Solche Gesichtspunkte müssen die
Massen verwirren, denn sie erheben die sozialdemokratischen Bestrebungen zu
einer Höhe von Wertschätzung, gegen welche alle sonstigen Kraftäußerungen des
Abgeordneten von Meppen, die er zur Beschwichtigung der katholischen Ge¬
wissen anwendete, nichts fruchten.

Sodann aber haben fortschrittliche und andre Blätter die Enthüllungen
der sozialdemokratischen Abgeordneten, obwohl sie sich zum großen Teil als un¬
wahr und in ihren: Reste als übertrieben darstellten, dazu benutzt, um wieder
einmal der Welt das klägliche Schauspiel zu bieten, daß das Ausland gegen¬
über der deutschen Negierung immer Recht hat. Es ist ja etwas Schönes
um die unparteiische und vorurteilslose Beurteilung einer Thatsache. In
dieser Beziehung zeichnet sich das deutsche Volk vor allen andern so sehr aus,
daß die Augenblicke, in welchen einmal das deutsche Volk geeinigt und unge¬
teilt dem Auslande gegenüber zu seiner Negierung steht, zu den seltensten ge¬
hören. Bis zum Kriege von 1870 haben wir diesen Augenblick seit der Er¬
hebung gegen Napoleon I. nicht mehr gehabt, und seit dem Kriege hat er erst
in den letzten Tagen bei der großen zündenden Rede des Reichskanzlers zu der
Wehrvorlage sich wieder einmal gezeigt. Vergleichen wir diese Haltung der
Deutschen mit andern Völkern, so werden wir zugeben müssen, daß bei uns eine
Objektivität herrscht, die wir im Interesse unsers Reiches lieber vermissen
möchten. Denn in einzelnen Kreisen geht sie bis zu dem Grade, daß sie bei
einem Streit mit dem Auslande gar nicht weiter die Sache prüft, sondern dem
letztern ohne weiteres Recht giebt. Dann hüllt sich der brave deutsche Fort¬
schrittsphilister in den Mantel seiner Tugend; sein Morgenkaffee und seine Zi¬
garre schmeckt ihm noch einmal so gut, wenn er in seinem Leiborgan liest, daß
der Pvlizeihauptmcmn Fischer zwar die Form nicht ganz beobachtet, aber doch
in der Sache selbst gegen den Polizeistaat einen wuchtigen Hieb geführt habe.


Sozialdemokratie und die Schweiz,

Einerseits ist, abgesehen von den Konservativen, keine einzige Partei sich
der großen Gefahr völlig bewußt, welche die Sozialdemokratie für uns mit sich
führt. Das Höchste in dieser Beziehung leistete in offenbarer Rücksicht auf die
künftigen Wahlen wieder die sogenannte freisinnige Partei, welche nicht nur für
völlige Aufhebung des Gesetzes stimmte, sondern sogar dem Abgeordnctrn Bebel
einen Sitz in der Kommission des Reichstages zur Beratung über den Gesetz¬
entwurf verschaffte. Das wird natürlich den Eindruck auf die große Masse der
Wähler nicht verfehlen; sie sehen daraus, daß die sozialdemokratischen Grundsätze,
die man nicht erörtern, sondern bekämpfen muß, eine entgegenkommende Rücksicht
erfahren haben, und müssen denken, daß sie eine solche verdienen. Nicht minder hat
der Abgeordnete Windthorst keinen Anstand genommen, Vergleiche aus dem Kultur¬
kämpfe hervorzuziehen und die Ausnahmegesetze gegen die damals widerspenstige
Geistlichkeit ans eine gleiche Stufe zu stellen mit den Gesetzen gegen Bestre¬
bungen, als deren Ziel noch auf dem letzten Parteitage in Se. Gallen
offen die Revolution ausgesprochen wurde. Solche Gesichtspunkte müssen die
Massen verwirren, denn sie erheben die sozialdemokratischen Bestrebungen zu
einer Höhe von Wertschätzung, gegen welche alle sonstigen Kraftäußerungen des
Abgeordneten von Meppen, die er zur Beschwichtigung der katholischen Ge¬
wissen anwendete, nichts fruchten.

Sodann aber haben fortschrittliche und andre Blätter die Enthüllungen
der sozialdemokratischen Abgeordneten, obwohl sie sich zum großen Teil als un¬
wahr und in ihren: Reste als übertrieben darstellten, dazu benutzt, um wieder
einmal der Welt das klägliche Schauspiel zu bieten, daß das Ausland gegen¬
über der deutschen Negierung immer Recht hat. Es ist ja etwas Schönes
um die unparteiische und vorurteilslose Beurteilung einer Thatsache. In
dieser Beziehung zeichnet sich das deutsche Volk vor allen andern so sehr aus,
daß die Augenblicke, in welchen einmal das deutsche Volk geeinigt und unge¬
teilt dem Auslande gegenüber zu seiner Negierung steht, zu den seltensten ge¬
hören. Bis zum Kriege von 1870 haben wir diesen Augenblick seit der Er¬
hebung gegen Napoleon I. nicht mehr gehabt, und seit dem Kriege hat er erst
in den letzten Tagen bei der großen zündenden Rede des Reichskanzlers zu der
Wehrvorlage sich wieder einmal gezeigt. Vergleichen wir diese Haltung der
Deutschen mit andern Völkern, so werden wir zugeben müssen, daß bei uns eine
Objektivität herrscht, die wir im Interesse unsers Reiches lieber vermissen
möchten. Denn in einzelnen Kreisen geht sie bis zu dem Grade, daß sie bei
einem Streit mit dem Auslande gar nicht weiter die Sache prüft, sondern dem
letztern ohne weiteres Recht giebt. Dann hüllt sich der brave deutsche Fort¬
schrittsphilister in den Mantel seiner Tugend; sein Morgenkaffee und seine Zi¬
garre schmeckt ihm noch einmal so gut, wenn er in seinem Leiborgan liest, daß
der Pvlizeihauptmcmn Fischer zwar die Form nicht ganz beobachtet, aber doch
in der Sache selbst gegen den Polizeistaat einen wuchtigen Hieb geführt habe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/482>, abgerufen am 27.06.2024.