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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Bamberger.

Glaubenssatz steht da, unverrückbar; paßt er bei der Anwendung nicht, dann
sind die Menschen und die Dinge schuld, müssen diese sich ändern, freiwillig oder
gezwungen.

Wenn die Sozialdemokraten, die es ehrlich meinen, die nicht geschäftsmäßig
Demagogie treiben, so gläubig alle Phantastereien der Weltverbesserer des acht¬
zehnten und unsers Jahrhunderts nachbeten und sich gar nicht die Frage vor¬
legen, wie in dem "sozialen Staate" die menschlichen Leidenschaften zum Schweigen
gebracht werden sollen, und ob dann der Ehrgeiz, das Gefühl größerer Kraft,
das Bewußtsein höherer Begabung -- um von niedern Regungen zu schweigen --
etwa Produkte der jetzigen Gesellschaftsordnung seien? -- wenn die Sozial-
demokraten, sagen wir, sich mit Phrasen berauschen und dann geringschätzig auf
die Nüchternen blicken, so wird das bei der Mehrzahl durch ihren Bildungs¬
gang entschuldigt. Es ist ja eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß Auto¬
didakten sich durch schlecht gewählte und unvcrstcmdne Lektüre den Kopf verwirren
und alles, was ihnen neu ist, für absolut neu, oft für ihre eigne Entdeckung
halten. Aber die Bamberger sind meistens sehr unterrichtete Leute, haben hohe
Schulen durchgemacht, viel gelesen, fremde Länder gesehen. Für sie fällt jede
Entschuldigung solcher Art weg, wenn sie sich immer noch geberden wie die Vor¬
kämpfer einer Reform, welche die starren Anhänger des Alten und die Vertei¬
diger von Sonderinteressen nicht aufkommen lassen Wollen. Thatsächlich hat
sich das Verhältnis völlig gewendet. Zur Zeit der Vorgänger und Vorbilder
der Bamberger wurde vom Standpunkte der Theorie aus Kritik an dem auto-
kratisch regierten Staat und an dem Prinzip des Feudalismus geübt, die Er¬
gebnisse jener theoretischen Prüfungen werden heute einer praktischen Kritik unter¬
zogen, die sie zum großen Teil nicht bestehen. Die Freisinnigen aber wehren
sich gegen die praktische Erfahrung, wie nur jemals ein Reaktionär gegen die
Forderungen des dritten Standes; wie rechte Legitimisten steifen sie sich auf die
Heiligkeit von Institutionen, die ihnen bequem sind, und ergehen sich in düstern
Weissagungen, wenn beseitigt wird, was als unhaltbar oder schädlich erkannt
worden ist; als echte Orthodoxe rühmen sie sich des allein wahren Glaubens
und verketzern am heftigsten diejenigen, welche sie als Abtrünnige ansehen.




Die Bamberger.

Glaubenssatz steht da, unverrückbar; paßt er bei der Anwendung nicht, dann
sind die Menschen und die Dinge schuld, müssen diese sich ändern, freiwillig oder
gezwungen.

Wenn die Sozialdemokraten, die es ehrlich meinen, die nicht geschäftsmäßig
Demagogie treiben, so gläubig alle Phantastereien der Weltverbesserer des acht¬
zehnten und unsers Jahrhunderts nachbeten und sich gar nicht die Frage vor¬
legen, wie in dem „sozialen Staate" die menschlichen Leidenschaften zum Schweigen
gebracht werden sollen, und ob dann der Ehrgeiz, das Gefühl größerer Kraft,
das Bewußtsein höherer Begabung — um von niedern Regungen zu schweigen —
etwa Produkte der jetzigen Gesellschaftsordnung seien? — wenn die Sozial-
demokraten, sagen wir, sich mit Phrasen berauschen und dann geringschätzig auf
die Nüchternen blicken, so wird das bei der Mehrzahl durch ihren Bildungs¬
gang entschuldigt. Es ist ja eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß Auto¬
didakten sich durch schlecht gewählte und unvcrstcmdne Lektüre den Kopf verwirren
und alles, was ihnen neu ist, für absolut neu, oft für ihre eigne Entdeckung
halten. Aber die Bamberger sind meistens sehr unterrichtete Leute, haben hohe
Schulen durchgemacht, viel gelesen, fremde Länder gesehen. Für sie fällt jede
Entschuldigung solcher Art weg, wenn sie sich immer noch geberden wie die Vor¬
kämpfer einer Reform, welche die starren Anhänger des Alten und die Vertei¬
diger von Sonderinteressen nicht aufkommen lassen Wollen. Thatsächlich hat
sich das Verhältnis völlig gewendet. Zur Zeit der Vorgänger und Vorbilder
der Bamberger wurde vom Standpunkte der Theorie aus Kritik an dem auto-
kratisch regierten Staat und an dem Prinzip des Feudalismus geübt, die Er¬
gebnisse jener theoretischen Prüfungen werden heute einer praktischen Kritik unter¬
zogen, die sie zum großen Teil nicht bestehen. Die Freisinnigen aber wehren
sich gegen die praktische Erfahrung, wie nur jemals ein Reaktionär gegen die
Forderungen des dritten Standes; wie rechte Legitimisten steifen sie sich auf die
Heiligkeit von Institutionen, die ihnen bequem sind, und ergehen sich in düstern
Weissagungen, wenn beseitigt wird, was als unhaltbar oder schädlich erkannt
worden ist; als echte Orthodoxe rühmen sie sich des allein wahren Glaubens
und verketzern am heftigsten diejenigen, welche sie als Abtrünnige ansehen.




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[0437] Die Bamberger. Glaubenssatz steht da, unverrückbar; paßt er bei der Anwendung nicht, dann sind die Menschen und die Dinge schuld, müssen diese sich ändern, freiwillig oder gezwungen. Wenn die Sozialdemokraten, die es ehrlich meinen, die nicht geschäftsmäßig Demagogie treiben, so gläubig alle Phantastereien der Weltverbesserer des acht¬ zehnten und unsers Jahrhunderts nachbeten und sich gar nicht die Frage vor¬ legen, wie in dem „sozialen Staate" die menschlichen Leidenschaften zum Schweigen gebracht werden sollen, und ob dann der Ehrgeiz, das Gefühl größerer Kraft, das Bewußtsein höherer Begabung — um von niedern Regungen zu schweigen — etwa Produkte der jetzigen Gesellschaftsordnung seien? — wenn die Sozial- demokraten, sagen wir, sich mit Phrasen berauschen und dann geringschätzig auf die Nüchternen blicken, so wird das bei der Mehrzahl durch ihren Bildungs¬ gang entschuldigt. Es ist ja eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß Auto¬ didakten sich durch schlecht gewählte und unvcrstcmdne Lektüre den Kopf verwirren und alles, was ihnen neu ist, für absolut neu, oft für ihre eigne Entdeckung halten. Aber die Bamberger sind meistens sehr unterrichtete Leute, haben hohe Schulen durchgemacht, viel gelesen, fremde Länder gesehen. Für sie fällt jede Entschuldigung solcher Art weg, wenn sie sich immer noch geberden wie die Vor¬ kämpfer einer Reform, welche die starren Anhänger des Alten und die Vertei¬ diger von Sonderinteressen nicht aufkommen lassen Wollen. Thatsächlich hat sich das Verhältnis völlig gewendet. Zur Zeit der Vorgänger und Vorbilder der Bamberger wurde vom Standpunkte der Theorie aus Kritik an dem auto- kratisch regierten Staat und an dem Prinzip des Feudalismus geübt, die Er¬ gebnisse jener theoretischen Prüfungen werden heute einer praktischen Kritik unter¬ zogen, die sie zum großen Teil nicht bestehen. Die Freisinnigen aber wehren sich gegen die praktische Erfahrung, wie nur jemals ein Reaktionär gegen die Forderungen des dritten Standes; wie rechte Legitimisten steifen sie sich auf die Heiligkeit von Institutionen, die ihnen bequem sind, und ergehen sich in düstern Weissagungen, wenn beseitigt wird, was als unhaltbar oder schädlich erkannt worden ist; als echte Orthodoxe rühmen sie sich des allein wahren Glaubens und verketzern am heftigsten diejenigen, welche sie als Abtrünnige ansehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/437>, abgerufen am 27.06.2024.