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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Krankheit des Jahrhunderts.

hat für den Rest seiner Tage höchstens Aussicht, seinen Groll und Ingrimm
in der Berliner Stadtverordnetenversammlung oder in einem Bezirksvcreine
auszuatmen. Die Papiere Wilhelms, welcher als der herrlichste Mensch, eine
Adelsnatur, "ganz aus Ebenmaß und Gleichgewicht bestehend," nicht sowohl
dargestellt als neben der Darstellung gepriesen wird und ein tiefer Denker, ein
Schriftsteller von höchsten Zielen gewesen sein soll, schenkt Doktor Schroeter
"dem jungen Manne, den er und Wilhelm hatten Naturwissenschaft studiren
lassen." Der Beschenkte ist begabt und klug und macht dem Vertrauen Ehre,
das seine Gönner in seine Zukunft gesetzt haben. Er findet den ersten Band
der "Geschichte der menschlichen Unwissenheit" vollkommen druckfertig und zu
zwei weitern Bänden alle Notizen und Litteraturnachweise, die nur zusammen¬
gefügt zu werden brauchen, um das Werk bis zum Schlüsse des achtzehnten
Jahrhunderts zu führen. Er giebt den ersten Band im Herbst heraus. Auf
dem Titelblatte nennt er sich als Verfasser, doch unterläßt er als anständiger
Mann uicht, in der Vorrede gewissenhaft anzugeben, daß er sich bei der Ab¬
fassung des Werkes "der Vorarbeiten eines der Wissenschaft durch einen tra¬
gischen Tod zu früh entrissenen Privatgelehrten, des Doktor Wilhelm Eynhardt,
bedient habe." Den zweiten und dritten Band fügt der junge Mann, der jetzt
zu den Zierden der deutschen Universitäten gehört, zusammen und wird darauf
hin berühmt und ein Licht der Wissenschaft. Doktor Schroeter läßt alles dies
"achselzuckend" geschehen. Seltsam in der That und nicht recht glaubhaft bei
dem Manne, der sonst kampflustig genug gestimmt und mit dem Freiherrn
von Münchhausen in Immermanns Roman der Überzeugung ist, daß alles
öffentlich werden müsst, selbst der Ort, der auf hebräisch Gehenna heißt.

Aber wie es sich auch mit Wilhelm Eynhardts gelehrtem Nachlaß ver¬
halten, wie gut oder schlecht er dem gelehrten Streber und Plagiator bekommen
mag, wir sollen doch an Eynhardt als dem Einen menschlich warmen Anteil
nehmen, sollen seinem Schicksal eine Thräne weihen, sollen ihn als den Mann
hoher sittlicher Schönheit und tiefer Einsicht ehren. Wenn "seine Willenlosig-
keit nur die Folge seiner Einsicht in die Nichtigkeit des Menschentreibens, seine
Wunschlosigkeit der Ausfluß seiner Geringschätzung alles Eilein und Vergäng¬
lichen, seine Abkehr von der Welterscheinung tragischer Verzicht war," so müßten
wir jedenfalls von alledem durch den Verlauf des Romans und nicht bloß durch
die Aussagen des Herrn Dr. Schroeter überzeugt werden. Und wie stellt sich
uns nun der große deutsche Buddhist, der Jdealmensch im Nordauschen Sinne,
vor Augen? Er tritt im Anfange des Romans im Schloßhotel zu Horn¬
berg an der Schwarzwaldbahn auf, und hier verliebt sich der Wunschlose in
eine junge Berliner Landsmännin Lulu Ellrich, die Tochter des üblichen
Kommerzienrath. Er kann wohl merken, daß sie aus gutem und wohlhabenden
Bürgerhause stammt, aber er kümmert sich nicht im mindesten darum, daß sie
eine der reichsten Erbinnen ist, ja er wird, als er es durch Paul Haber erfährt,


Die Krankheit des Jahrhunderts.

hat für den Rest seiner Tage höchstens Aussicht, seinen Groll und Ingrimm
in der Berliner Stadtverordnetenversammlung oder in einem Bezirksvcreine
auszuatmen. Die Papiere Wilhelms, welcher als der herrlichste Mensch, eine
Adelsnatur, „ganz aus Ebenmaß und Gleichgewicht bestehend," nicht sowohl
dargestellt als neben der Darstellung gepriesen wird und ein tiefer Denker, ein
Schriftsteller von höchsten Zielen gewesen sein soll, schenkt Doktor Schroeter
„dem jungen Manne, den er und Wilhelm hatten Naturwissenschaft studiren
lassen." Der Beschenkte ist begabt und klug und macht dem Vertrauen Ehre,
das seine Gönner in seine Zukunft gesetzt haben. Er findet den ersten Band
der „Geschichte der menschlichen Unwissenheit" vollkommen druckfertig und zu
zwei weitern Bänden alle Notizen und Litteraturnachweise, die nur zusammen¬
gefügt zu werden brauchen, um das Werk bis zum Schlüsse des achtzehnten
Jahrhunderts zu führen. Er giebt den ersten Band im Herbst heraus. Auf
dem Titelblatte nennt er sich als Verfasser, doch unterläßt er als anständiger
Mann uicht, in der Vorrede gewissenhaft anzugeben, daß er sich bei der Ab¬
fassung des Werkes „der Vorarbeiten eines der Wissenschaft durch einen tra¬
gischen Tod zu früh entrissenen Privatgelehrten, des Doktor Wilhelm Eynhardt,
bedient habe." Den zweiten und dritten Band fügt der junge Mann, der jetzt
zu den Zierden der deutschen Universitäten gehört, zusammen und wird darauf
hin berühmt und ein Licht der Wissenschaft. Doktor Schroeter läßt alles dies
„achselzuckend" geschehen. Seltsam in der That und nicht recht glaubhaft bei
dem Manne, der sonst kampflustig genug gestimmt und mit dem Freiherrn
von Münchhausen in Immermanns Roman der Überzeugung ist, daß alles
öffentlich werden müsst, selbst der Ort, der auf hebräisch Gehenna heißt.

Aber wie es sich auch mit Wilhelm Eynhardts gelehrtem Nachlaß ver¬
halten, wie gut oder schlecht er dem gelehrten Streber und Plagiator bekommen
mag, wir sollen doch an Eynhardt als dem Einen menschlich warmen Anteil
nehmen, sollen seinem Schicksal eine Thräne weihen, sollen ihn als den Mann
hoher sittlicher Schönheit und tiefer Einsicht ehren. Wenn „seine Willenlosig-
keit nur die Folge seiner Einsicht in die Nichtigkeit des Menschentreibens, seine
Wunschlosigkeit der Ausfluß seiner Geringschätzung alles Eilein und Vergäng¬
lichen, seine Abkehr von der Welterscheinung tragischer Verzicht war," so müßten
wir jedenfalls von alledem durch den Verlauf des Romans und nicht bloß durch
die Aussagen des Herrn Dr. Schroeter überzeugt werden. Und wie stellt sich
uns nun der große deutsche Buddhist, der Jdealmensch im Nordauschen Sinne,
vor Augen? Er tritt im Anfange des Romans im Schloßhotel zu Horn¬
berg an der Schwarzwaldbahn auf, und hier verliebt sich der Wunschlose in
eine junge Berliner Landsmännin Lulu Ellrich, die Tochter des üblichen
Kommerzienrath. Er kann wohl merken, daß sie aus gutem und wohlhabenden
Bürgerhause stammt, aber er kümmert sich nicht im mindesten darum, daß sie
eine der reichsten Erbinnen ist, ja er wird, als er es durch Paul Haber erfährt,


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[0419] Die Krankheit des Jahrhunderts. hat für den Rest seiner Tage höchstens Aussicht, seinen Groll und Ingrimm in der Berliner Stadtverordnetenversammlung oder in einem Bezirksvcreine auszuatmen. Die Papiere Wilhelms, welcher als der herrlichste Mensch, eine Adelsnatur, „ganz aus Ebenmaß und Gleichgewicht bestehend," nicht sowohl dargestellt als neben der Darstellung gepriesen wird und ein tiefer Denker, ein Schriftsteller von höchsten Zielen gewesen sein soll, schenkt Doktor Schroeter „dem jungen Manne, den er und Wilhelm hatten Naturwissenschaft studiren lassen." Der Beschenkte ist begabt und klug und macht dem Vertrauen Ehre, das seine Gönner in seine Zukunft gesetzt haben. Er findet den ersten Band der „Geschichte der menschlichen Unwissenheit" vollkommen druckfertig und zu zwei weitern Bänden alle Notizen und Litteraturnachweise, die nur zusammen¬ gefügt zu werden brauchen, um das Werk bis zum Schlüsse des achtzehnten Jahrhunderts zu führen. Er giebt den ersten Band im Herbst heraus. Auf dem Titelblatte nennt er sich als Verfasser, doch unterläßt er als anständiger Mann uicht, in der Vorrede gewissenhaft anzugeben, daß er sich bei der Ab¬ fassung des Werkes „der Vorarbeiten eines der Wissenschaft durch einen tra¬ gischen Tod zu früh entrissenen Privatgelehrten, des Doktor Wilhelm Eynhardt, bedient habe." Den zweiten und dritten Band fügt der junge Mann, der jetzt zu den Zierden der deutschen Universitäten gehört, zusammen und wird darauf hin berühmt und ein Licht der Wissenschaft. Doktor Schroeter läßt alles dies „achselzuckend" geschehen. Seltsam in der That und nicht recht glaubhaft bei dem Manne, der sonst kampflustig genug gestimmt und mit dem Freiherrn von Münchhausen in Immermanns Roman der Überzeugung ist, daß alles öffentlich werden müsst, selbst der Ort, der auf hebräisch Gehenna heißt. Aber wie es sich auch mit Wilhelm Eynhardts gelehrtem Nachlaß ver¬ halten, wie gut oder schlecht er dem gelehrten Streber und Plagiator bekommen mag, wir sollen doch an Eynhardt als dem Einen menschlich warmen Anteil nehmen, sollen seinem Schicksal eine Thräne weihen, sollen ihn als den Mann hoher sittlicher Schönheit und tiefer Einsicht ehren. Wenn „seine Willenlosig- keit nur die Folge seiner Einsicht in die Nichtigkeit des Menschentreibens, seine Wunschlosigkeit der Ausfluß seiner Geringschätzung alles Eilein und Vergäng¬ lichen, seine Abkehr von der Welterscheinung tragischer Verzicht war," so müßten wir jedenfalls von alledem durch den Verlauf des Romans und nicht bloß durch die Aussagen des Herrn Dr. Schroeter überzeugt werden. Und wie stellt sich uns nun der große deutsche Buddhist, der Jdealmensch im Nordauschen Sinne, vor Augen? Er tritt im Anfange des Romans im Schloßhotel zu Horn¬ berg an der Schwarzwaldbahn auf, und hier verliebt sich der Wunschlose in eine junge Berliner Landsmännin Lulu Ellrich, die Tochter des üblichen Kommerzienrath. Er kann wohl merken, daß sie aus gutem und wohlhabenden Bürgerhause stammt, aber er kümmert sich nicht im mindesten darum, daß sie eine der reichsten Erbinnen ist, ja er wird, als er es durch Paul Haber erfährt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/419>, abgerufen am 27.06.2024.