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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gottsched und die deutsche Sprache.

Von seiner ersten Übersetzung des Verlornen Paradieses (1732) erkannte Boomer
später selber an, sie sei eine schweizerische, und erst eine zweite, 1742 erschienene,
nannte er eine deutsche.

Wie bei den Schriftstellern seiner Zeit, so war Gottscheds Einfluß auch in
den Kreisen der Schule sehr bedeutend. Von seiner "deutschen Sprachkunst"
veranstaltete er selbst einen Auszug, den er "Kern der deutschen Sprachkunst"
nannte und auf dem Titel ausdrücklich "zum Gebrauche der Jugend" bestimmte.
Das Buch fand in vielen Schulen Eingang und erlebte, einen Wiener Nach¬
druck ungerechnet, noch zwanzig Jahre nach Gottscheds Tode eine achte Auf¬
lage. Bei der unter Friedrich dem Großen durch den Abt Felbiger bewirkten
Neugestaltung des Schulwesens in Schlesien wurde Gottscheds "Kern der
deutscheu Sprachkunst" unter den "klassischen" Schulbüchern mit aufgeführt.

Sehr wohlthuend berührt es, wenn Gottsched in der Vorrede dieses Büch¬
leins, mit welcher es "sämtlichen berühmten Lehrern der Schulen in und außer
Deutschland" gewidmet wird, nicht nur auf eine Aneignung sprachlicher Kennt¬
nisse dringt, sondern als die Hauptsache bezeichnet, daß durch den Sprachunter¬
richt den Schülern "Hochachtung und Liebe zu ihrer Muttersprache" einge¬
pflanzt werden solle. "Erziehen Sie dadurch -- schreibt er in dieser Vorrede --
Ihrem Vaterlande rechtschaffene Patrioten, die auch das Einheimische kennen
und lieben, nicht aber aus Vorurteilen nur die Sprache der Ausländer hoch¬
schätzen."

Sieht man das Buch genauer an, so muß man zu der Überzeugung ge¬
langen, daß man es mit einem für seine Zeit sehr tüchtigen Schulbuche zu
thun habe. Ja es ließe sich manches aufzählen, was das Buch vor vielen der
jetzt gebräuchlichen deutschen Schulgrammatiken voraus hat. Dahin gehört
namentlich das sehr oft zu bemerkende Eingehen auf die Wortbedeutung. Wenn
auch dabei manches irrige mit unterläuft, worüber man sich bei dem damaligen
Stande der Wortherleitungslehre kaum wundern darf, wenn z. B. Fessel von
fassen, Knebelbart von Knabenbart abgeleitet wird, oder wenn es u. a. heißt:
"aus futtern, füttern ist Vater, der seine Kinder ernährt, entstanden," so findet
sich doch auch vieles richtige, und diejenigen Schulgrammatiken dürften heute
selten sein, in denen z. V. wie in Gottscheds "Kern der deutschen Sprachkunst"
der sinnliche Inhalt des Wortes "heucheln" durch das Zurückgehen auf "hauchen"
klar gemacht würde. Auch mancher Ansatz zur Lehre von den sinnverwandten
Wörtern findet sich in dem Buche, wie denn Gottsched dieser Lehre seine Auf¬
merksamkeit bereits im ersten Stücke der "Beyträge" (S. 70) und später in
einem besondern Buche, das unter dem Titel: "Beobachtungen über den Ge¬
brauch und Mißbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten" (1758) er¬
schien, gewidmet hat.

Ein nicht gering anzuschlagendes Verdienst Gottscheds ist dasjenige, welches
er sich durch Zurückdrängung wilder Regellosigkeit und eigenmächtiger Neue-


Gottsched und die deutsche Sprache.

Von seiner ersten Übersetzung des Verlornen Paradieses (1732) erkannte Boomer
später selber an, sie sei eine schweizerische, und erst eine zweite, 1742 erschienene,
nannte er eine deutsche.

Wie bei den Schriftstellern seiner Zeit, so war Gottscheds Einfluß auch in
den Kreisen der Schule sehr bedeutend. Von seiner „deutschen Sprachkunst"
veranstaltete er selbst einen Auszug, den er „Kern der deutschen Sprachkunst"
nannte und auf dem Titel ausdrücklich „zum Gebrauche der Jugend" bestimmte.
Das Buch fand in vielen Schulen Eingang und erlebte, einen Wiener Nach¬
druck ungerechnet, noch zwanzig Jahre nach Gottscheds Tode eine achte Auf¬
lage. Bei der unter Friedrich dem Großen durch den Abt Felbiger bewirkten
Neugestaltung des Schulwesens in Schlesien wurde Gottscheds „Kern der
deutscheu Sprachkunst" unter den „klassischen" Schulbüchern mit aufgeführt.

Sehr wohlthuend berührt es, wenn Gottsched in der Vorrede dieses Büch¬
leins, mit welcher es „sämtlichen berühmten Lehrern der Schulen in und außer
Deutschland" gewidmet wird, nicht nur auf eine Aneignung sprachlicher Kennt¬
nisse dringt, sondern als die Hauptsache bezeichnet, daß durch den Sprachunter¬
richt den Schülern „Hochachtung und Liebe zu ihrer Muttersprache" einge¬
pflanzt werden solle. „Erziehen Sie dadurch — schreibt er in dieser Vorrede —
Ihrem Vaterlande rechtschaffene Patrioten, die auch das Einheimische kennen
und lieben, nicht aber aus Vorurteilen nur die Sprache der Ausländer hoch¬
schätzen."

Sieht man das Buch genauer an, so muß man zu der Überzeugung ge¬
langen, daß man es mit einem für seine Zeit sehr tüchtigen Schulbuche zu
thun habe. Ja es ließe sich manches aufzählen, was das Buch vor vielen der
jetzt gebräuchlichen deutschen Schulgrammatiken voraus hat. Dahin gehört
namentlich das sehr oft zu bemerkende Eingehen auf die Wortbedeutung. Wenn
auch dabei manches irrige mit unterläuft, worüber man sich bei dem damaligen
Stande der Wortherleitungslehre kaum wundern darf, wenn z. B. Fessel von
fassen, Knebelbart von Knabenbart abgeleitet wird, oder wenn es u. a. heißt:
„aus futtern, füttern ist Vater, der seine Kinder ernährt, entstanden," so findet
sich doch auch vieles richtige, und diejenigen Schulgrammatiken dürften heute
selten sein, in denen z. V. wie in Gottscheds „Kern der deutschen Sprachkunst"
der sinnliche Inhalt des Wortes „heucheln" durch das Zurückgehen auf „hauchen"
klar gemacht würde. Auch mancher Ansatz zur Lehre von den sinnverwandten
Wörtern findet sich in dem Buche, wie denn Gottsched dieser Lehre seine Auf¬
merksamkeit bereits im ersten Stücke der „Beyträge" (S. 70) und später in
einem besondern Buche, das unter dem Titel: „Beobachtungen über den Ge¬
brauch und Mißbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten" (1758) er¬
schien, gewidmet hat.

Ein nicht gering anzuschlagendes Verdienst Gottscheds ist dasjenige, welches
er sich durch Zurückdrängung wilder Regellosigkeit und eigenmächtiger Neue-


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[0355] Gottsched und die deutsche Sprache. Von seiner ersten Übersetzung des Verlornen Paradieses (1732) erkannte Boomer später selber an, sie sei eine schweizerische, und erst eine zweite, 1742 erschienene, nannte er eine deutsche. Wie bei den Schriftstellern seiner Zeit, so war Gottscheds Einfluß auch in den Kreisen der Schule sehr bedeutend. Von seiner „deutschen Sprachkunst" veranstaltete er selbst einen Auszug, den er „Kern der deutschen Sprachkunst" nannte und auf dem Titel ausdrücklich „zum Gebrauche der Jugend" bestimmte. Das Buch fand in vielen Schulen Eingang und erlebte, einen Wiener Nach¬ druck ungerechnet, noch zwanzig Jahre nach Gottscheds Tode eine achte Auf¬ lage. Bei der unter Friedrich dem Großen durch den Abt Felbiger bewirkten Neugestaltung des Schulwesens in Schlesien wurde Gottscheds „Kern der deutscheu Sprachkunst" unter den „klassischen" Schulbüchern mit aufgeführt. Sehr wohlthuend berührt es, wenn Gottsched in der Vorrede dieses Büch¬ leins, mit welcher es „sämtlichen berühmten Lehrern der Schulen in und außer Deutschland" gewidmet wird, nicht nur auf eine Aneignung sprachlicher Kennt¬ nisse dringt, sondern als die Hauptsache bezeichnet, daß durch den Sprachunter¬ richt den Schülern „Hochachtung und Liebe zu ihrer Muttersprache" einge¬ pflanzt werden solle. „Erziehen Sie dadurch — schreibt er in dieser Vorrede — Ihrem Vaterlande rechtschaffene Patrioten, die auch das Einheimische kennen und lieben, nicht aber aus Vorurteilen nur die Sprache der Ausländer hoch¬ schätzen." Sieht man das Buch genauer an, so muß man zu der Überzeugung ge¬ langen, daß man es mit einem für seine Zeit sehr tüchtigen Schulbuche zu thun habe. Ja es ließe sich manches aufzählen, was das Buch vor vielen der jetzt gebräuchlichen deutschen Schulgrammatiken voraus hat. Dahin gehört namentlich das sehr oft zu bemerkende Eingehen auf die Wortbedeutung. Wenn auch dabei manches irrige mit unterläuft, worüber man sich bei dem damaligen Stande der Wortherleitungslehre kaum wundern darf, wenn z. B. Fessel von fassen, Knebelbart von Knabenbart abgeleitet wird, oder wenn es u. a. heißt: „aus futtern, füttern ist Vater, der seine Kinder ernährt, entstanden," so findet sich doch auch vieles richtige, und diejenigen Schulgrammatiken dürften heute selten sein, in denen z. V. wie in Gottscheds „Kern der deutschen Sprachkunst" der sinnliche Inhalt des Wortes „heucheln" durch das Zurückgehen auf „hauchen" klar gemacht würde. Auch mancher Ansatz zur Lehre von den sinnverwandten Wörtern findet sich in dem Buche, wie denn Gottsched dieser Lehre seine Auf¬ merksamkeit bereits im ersten Stücke der „Beyträge" (S. 70) und später in einem besondern Buche, das unter dem Titel: „Beobachtungen über den Ge¬ brauch und Mißbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten" (1758) er¬ schien, gewidmet hat. Ein nicht gering anzuschlagendes Verdienst Gottscheds ist dasjenige, welches er sich durch Zurückdrängung wilder Regellosigkeit und eigenmächtiger Neue-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/355>, abgerufen am 21.06.2024.