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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Arzt und der Kranke.

halten viele nur für eine Einrichtung im Interesse des Publikums, damit sich
dieses keine vergeblichen Wege macht. Es wird aber vergessen, daß es auch
eine Zeitersparnis für den Arzt ist, wenn sich in seinen Sprechstunden alle zu¬
sammenfinden, welche hier überhaupt abgefertigt werden können. Findet der
Arzt jederzeit, sobald er sich zu Hause blicken läßt, immer wieder einen Kranken
vor, so wird er ebenso oft aus der beabsichtigten Bahn herausgedrängt, wenn
er sich nicht grundsätzlich außerhalb der festgesetzten Stunden verleugnen lassen will.

Besuche außer dem Hause sollten, wenn irgend möglich, des Morgens vor
dem ersten Ausgange bestellt werden, da der Laufzettel für jeden Tag selbst¬
verständlich nach topographischen Rücksichten aufgestellt wird. In hohen und
niedrigen Kreisen giebt es aber zahlreiche Menschen, welche sich für berechtigt
halten, diese Ordnung in jedem Augenblicke zu durchbrechen. Diese schicken, wenn
es ihnen gerade einfüllt, zum Arzt und nötigen ihn, vielleicht zum dritten male
an diesem Tage, dieselbe entfernte Gegend aufzusuchen. Ich sage: nötigen; das
Strafgesetzbuch verpflichtet ihn freilich nicht mehr wie ehedem, wohl aber sein
Pflichtgefühl, weil er vorher nie wissen kann, ob es sich unter den mancherlei
ausschiebbaren Fällen diesmal nicht doch um eine eilige Angelegenheit handelt.
Zum Überfluß Pflegen solche unzeitige Bestellungen zu lauten: "Herr Doktor
möchte doch gleich einmal zu Frau B. kommen." Natürlich, nachdem Frau B.
sich zwei Tage lang ohne Arzt beholfen hat, soll er nun sofort zur Stelle sein.
Beispiele solcher den meisten kaum bewußten Tyrannisirung ließen sich zu Hun¬
derten anführen. Ich wurde einst um Mitternacht zu einem masernkranken
Kinde gerufen, weil sich der Husten im Laufe des Tages verschlimmert hatte.
Als ich ein Rezept verschrieben hatte, fragte mich der Vater mit rührender
Naivität: "Die Arznei hat wohl Zeit bis morgen früh, oder sollen wir sie
heute noch machen lassen?" An einem Weihnachtsabend holte mich ein Bahn¬
arbeiter auf einem elenden Schlitten bei grimmiger Kälte über Land zu seinem
Kinde. Bei meiner Ankunft verließ eben der Bahnarzt das Haus, welcher das
Kind seit mehreren Tagen regelmäßig besucht hatte, dessen Verordnungen man
aber gern einmal hinter seinem Rücken der Beurteilung eines andern unter¬
ziehen wollte. Am Krankenbette seinem Ärger Ausdruck zu geben, erschiene hart
und ändert nichts. Mir blieb nur übrig, mir den weiten Rückweg zu meiner
Familie mit recht gemischten Weihnachtsbetrachtuugen zu verkürzen.

Zu den unzeitgemäßer "Konsultationen" gehört auch das Ausfragen eines
Arztes bei geselligem oder sonstigem Zusammentreffen, wie es in dem Lustspiel
"Doktor Klaus" so hübsch gegeißelt ist. Manche glauben, den Arzt damit inter¬
essant zu unterhalten, andre wollen ihn nnr über die Ansichten eines Kollegen
aufhorchen; die wenigsten wollen wirklich ernstlichen Gebrauch von dem machen,
was sie da erfahren.

Tief in der menschlichen Natur steckt noch immer der Glaube an Wunder¬
bares. Längere Zeit ohne Arznei auf diätetisches Verhalten angewiesen zu


Grenzboten I. 18L8. 4
Der Arzt und der Kranke.

halten viele nur für eine Einrichtung im Interesse des Publikums, damit sich
dieses keine vergeblichen Wege macht. Es wird aber vergessen, daß es auch
eine Zeitersparnis für den Arzt ist, wenn sich in seinen Sprechstunden alle zu¬
sammenfinden, welche hier überhaupt abgefertigt werden können. Findet der
Arzt jederzeit, sobald er sich zu Hause blicken läßt, immer wieder einen Kranken
vor, so wird er ebenso oft aus der beabsichtigten Bahn herausgedrängt, wenn
er sich nicht grundsätzlich außerhalb der festgesetzten Stunden verleugnen lassen will.

Besuche außer dem Hause sollten, wenn irgend möglich, des Morgens vor
dem ersten Ausgange bestellt werden, da der Laufzettel für jeden Tag selbst¬
verständlich nach topographischen Rücksichten aufgestellt wird. In hohen und
niedrigen Kreisen giebt es aber zahlreiche Menschen, welche sich für berechtigt
halten, diese Ordnung in jedem Augenblicke zu durchbrechen. Diese schicken, wenn
es ihnen gerade einfüllt, zum Arzt und nötigen ihn, vielleicht zum dritten male
an diesem Tage, dieselbe entfernte Gegend aufzusuchen. Ich sage: nötigen; das
Strafgesetzbuch verpflichtet ihn freilich nicht mehr wie ehedem, wohl aber sein
Pflichtgefühl, weil er vorher nie wissen kann, ob es sich unter den mancherlei
ausschiebbaren Fällen diesmal nicht doch um eine eilige Angelegenheit handelt.
Zum Überfluß Pflegen solche unzeitige Bestellungen zu lauten: „Herr Doktor
möchte doch gleich einmal zu Frau B. kommen." Natürlich, nachdem Frau B.
sich zwei Tage lang ohne Arzt beholfen hat, soll er nun sofort zur Stelle sein.
Beispiele solcher den meisten kaum bewußten Tyrannisirung ließen sich zu Hun¬
derten anführen. Ich wurde einst um Mitternacht zu einem masernkranken
Kinde gerufen, weil sich der Husten im Laufe des Tages verschlimmert hatte.
Als ich ein Rezept verschrieben hatte, fragte mich der Vater mit rührender
Naivität: „Die Arznei hat wohl Zeit bis morgen früh, oder sollen wir sie
heute noch machen lassen?" An einem Weihnachtsabend holte mich ein Bahn¬
arbeiter auf einem elenden Schlitten bei grimmiger Kälte über Land zu seinem
Kinde. Bei meiner Ankunft verließ eben der Bahnarzt das Haus, welcher das
Kind seit mehreren Tagen regelmäßig besucht hatte, dessen Verordnungen man
aber gern einmal hinter seinem Rücken der Beurteilung eines andern unter¬
ziehen wollte. Am Krankenbette seinem Ärger Ausdruck zu geben, erschiene hart
und ändert nichts. Mir blieb nur übrig, mir den weiten Rückweg zu meiner
Familie mit recht gemischten Weihnachtsbetrachtuugen zu verkürzen.

Zu den unzeitgemäßer „Konsultationen" gehört auch das Ausfragen eines
Arztes bei geselligem oder sonstigem Zusammentreffen, wie es in dem Lustspiel
„Doktor Klaus" so hübsch gegeißelt ist. Manche glauben, den Arzt damit inter¬
essant zu unterhalten, andre wollen ihn nnr über die Ansichten eines Kollegen
aufhorchen; die wenigsten wollen wirklich ernstlichen Gebrauch von dem machen,
was sie da erfahren.

Tief in der menschlichen Natur steckt noch immer der Glaube an Wunder¬
bares. Längere Zeit ohne Arznei auf diätetisches Verhalten angewiesen zu


Grenzboten I. 18L8. 4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/33>, abgerufen am 21.06.2024.