Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Arzt und der Kranke.

weitern Maßnahmen von der Wage abhängig und verspricht in acht Tagen
wiederzukommen, um die Ergebnisse der Wägungen zu erfahren. Er kommt
und muß von der den besten Ständen angehörigen Mutter die Antwort ver¬
nehmen: "Ach, das Wägen habe ich ganz vergessen, aber heute Nachmittag
werde ich gleich damit anfangen." Man erwartet vom Arzte bestimmte Diät¬
vorschriften, und doch wird nichts schlechter befolgt als gerade diese. Daß
manche Leute nicht willensstark genug sind, auf den gewohnten Genuß von
Kaffee, Bier oder Zigarren zu verzichten, ist bekannt. Gar den Kindern gegen¬
über ist man in dieser Beziehung von erstaunlicher Schwäche. Eine Mutter
hat wegen eines Darmkatarrhs ihres Kindes vielleicht zu gleicher Zeit zu drei
Ärzten geschickt und hält das gewiß für ein Zeichen großer Sorglichkeit, aber
sie ist außer stände, ihrem Lieblinge das Stück verbotenen Kuchens aus der
Hand zu nehmen. Ein andres Kind hatte die Ruhr, die Mutter wurde dringend
gewarnt, ihm außer der bestimmt vorgeschriebenen Nahrung irgend etwas andres
zu reichen. Am nächsten Morgen fand ich den Kleinen mit einem Bissen roher
Gurke im Munde. "Ach, ich dachte, das bischen Gurke könnte doch nichts
schaden," war die Antwort der Mutter auf meine entrüsteten Vorhaltungen.
Viele Menschen haben eine wahre Wut, Kindern Leckerbissen zuzustecken. Thun
es die Eltern nicht, so finden sich gute Onkel und Tanten, und namentlich die
Kinderfrauen sorgen dafür, daß die Kleinen hier ein "Bonbon," dort eine
vielleicht noch unreife Pflaume in das Mäulchen gesteckt bekommen. Ja selbst
wildfremde Leute können der Versuchung nicht widerstehen. Sind die Kinder,
mit denen das Kindermädchen durch die Straße zieht, "niedlich," und ist gar
das Kindermädchen ebenfalls "niedlich," so darf man sich nicht wundern, wenn
ihnen in einer halben Stunde von Nachbarsleuten und Kaufmcmnslehrlingen
alles mögliche Naschwerk zur sofortige,: Vertilgung eingehändigt wird. Zu
Hause wird natürlich nichts davon erzählt, und etwaige böse Folgen werden
den Zähnen oder den beliebten Erkältungen in die Schuhe geschoben.

Eine nie versiegende Quelle von Verdrießlichkeiten sür den Arzt ist die
mangelnde Rücksicht auf seine Zeiteinteilung. Jeder Arzt wird sich bei Tag
oder Nacht von der Arbeit oder aus heiterer Gesellschaft ohne Murren abrufen
lassen, um bei Unglücksfällen oder plötzlichen schweren Erkrankungen Hilfe zu
leisten. Wenn ein Straßenjunge an der Nachtglocke zieht, um den Arzt zu
foppen, so wird dieser das Unvermeidliche mit Würde tragen. Und wenn, wie
es ein Bekannter in einer kleinen Stadt erlebte, des Morgens um zwei Uhr
ein Holzschläger, der in den Forst auf Arbeit geht, den aus dem Morgen¬
schlummer geweckten Arzt bittet, er möchte doch, wenn er "heute" ausginge, zu
seinem seit zwei Tagen krank liegenden Schwager mit herankommen, so wird
man wenigstens Verständnis für den Humor der Lage haben. Aber für die
laufenden Berufsgeschäfte muß eine strenge Zeiteinteilung eingehalten werden,
wenn die Stunden nicht nutzlos vergeudet werden sollen. Die Sprechstunde


Der Arzt und der Kranke.

weitern Maßnahmen von der Wage abhängig und verspricht in acht Tagen
wiederzukommen, um die Ergebnisse der Wägungen zu erfahren. Er kommt
und muß von der den besten Ständen angehörigen Mutter die Antwort ver¬
nehmen: „Ach, das Wägen habe ich ganz vergessen, aber heute Nachmittag
werde ich gleich damit anfangen." Man erwartet vom Arzte bestimmte Diät¬
vorschriften, und doch wird nichts schlechter befolgt als gerade diese. Daß
manche Leute nicht willensstark genug sind, auf den gewohnten Genuß von
Kaffee, Bier oder Zigarren zu verzichten, ist bekannt. Gar den Kindern gegen¬
über ist man in dieser Beziehung von erstaunlicher Schwäche. Eine Mutter
hat wegen eines Darmkatarrhs ihres Kindes vielleicht zu gleicher Zeit zu drei
Ärzten geschickt und hält das gewiß für ein Zeichen großer Sorglichkeit, aber
sie ist außer stände, ihrem Lieblinge das Stück verbotenen Kuchens aus der
Hand zu nehmen. Ein andres Kind hatte die Ruhr, die Mutter wurde dringend
gewarnt, ihm außer der bestimmt vorgeschriebenen Nahrung irgend etwas andres
zu reichen. Am nächsten Morgen fand ich den Kleinen mit einem Bissen roher
Gurke im Munde. „Ach, ich dachte, das bischen Gurke könnte doch nichts
schaden," war die Antwort der Mutter auf meine entrüsteten Vorhaltungen.
Viele Menschen haben eine wahre Wut, Kindern Leckerbissen zuzustecken. Thun
es die Eltern nicht, so finden sich gute Onkel und Tanten, und namentlich die
Kinderfrauen sorgen dafür, daß die Kleinen hier ein „Bonbon," dort eine
vielleicht noch unreife Pflaume in das Mäulchen gesteckt bekommen. Ja selbst
wildfremde Leute können der Versuchung nicht widerstehen. Sind die Kinder,
mit denen das Kindermädchen durch die Straße zieht, „niedlich," und ist gar
das Kindermädchen ebenfalls „niedlich," so darf man sich nicht wundern, wenn
ihnen in einer halben Stunde von Nachbarsleuten und Kaufmcmnslehrlingen
alles mögliche Naschwerk zur sofortige,: Vertilgung eingehändigt wird. Zu
Hause wird natürlich nichts davon erzählt, und etwaige böse Folgen werden
den Zähnen oder den beliebten Erkältungen in die Schuhe geschoben.

Eine nie versiegende Quelle von Verdrießlichkeiten sür den Arzt ist die
mangelnde Rücksicht auf seine Zeiteinteilung. Jeder Arzt wird sich bei Tag
oder Nacht von der Arbeit oder aus heiterer Gesellschaft ohne Murren abrufen
lassen, um bei Unglücksfällen oder plötzlichen schweren Erkrankungen Hilfe zu
leisten. Wenn ein Straßenjunge an der Nachtglocke zieht, um den Arzt zu
foppen, so wird dieser das Unvermeidliche mit Würde tragen. Und wenn, wie
es ein Bekannter in einer kleinen Stadt erlebte, des Morgens um zwei Uhr
ein Holzschläger, der in den Forst auf Arbeit geht, den aus dem Morgen¬
schlummer geweckten Arzt bittet, er möchte doch, wenn er „heute" ausginge, zu
seinem seit zwei Tagen krank liegenden Schwager mit herankommen, so wird
man wenigstens Verständnis für den Humor der Lage haben. Aber für die
laufenden Berufsgeschäfte muß eine strenge Zeiteinteilung eingehalten werden,
wenn die Stunden nicht nutzlos vergeudet werden sollen. Die Sprechstunde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202131"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Arzt und der Kranke.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68"> weitern Maßnahmen von der Wage abhängig und verspricht in acht Tagen<lb/>
wiederzukommen, um die Ergebnisse der Wägungen zu erfahren. Er kommt<lb/>
und muß von der den besten Ständen angehörigen Mutter die Antwort ver¬<lb/>
nehmen: &#x201E;Ach, das Wägen habe ich ganz vergessen, aber heute Nachmittag<lb/>
werde ich gleich damit anfangen." Man erwartet vom Arzte bestimmte Diät¬<lb/>
vorschriften, und doch wird nichts schlechter befolgt als gerade diese. Daß<lb/>
manche Leute nicht willensstark genug sind, auf den gewohnten Genuß von<lb/>
Kaffee, Bier oder Zigarren zu verzichten, ist bekannt. Gar den Kindern gegen¬<lb/>
über ist man in dieser Beziehung von erstaunlicher Schwäche. Eine Mutter<lb/>
hat wegen eines Darmkatarrhs ihres Kindes vielleicht zu gleicher Zeit zu drei<lb/>
Ärzten geschickt und hält das gewiß für ein Zeichen großer Sorglichkeit, aber<lb/>
sie ist außer stände, ihrem Lieblinge das Stück verbotenen Kuchens aus der<lb/>
Hand zu nehmen. Ein andres Kind hatte die Ruhr, die Mutter wurde dringend<lb/>
gewarnt, ihm außer der bestimmt vorgeschriebenen Nahrung irgend etwas andres<lb/>
zu reichen. Am nächsten Morgen fand ich den Kleinen mit einem Bissen roher<lb/>
Gurke im Munde. &#x201E;Ach, ich dachte, das bischen Gurke könnte doch nichts<lb/>
schaden," war die Antwort der Mutter auf meine entrüsteten Vorhaltungen.<lb/>
Viele Menschen haben eine wahre Wut, Kindern Leckerbissen zuzustecken. Thun<lb/>
es die Eltern nicht, so finden sich gute Onkel und Tanten, und namentlich die<lb/>
Kinderfrauen sorgen dafür, daß die Kleinen hier ein &#x201E;Bonbon," dort eine<lb/>
vielleicht noch unreife Pflaume in das Mäulchen gesteckt bekommen. Ja selbst<lb/>
wildfremde Leute können der Versuchung nicht widerstehen. Sind die Kinder,<lb/>
mit denen das Kindermädchen durch die Straße zieht, &#x201E;niedlich," und ist gar<lb/>
das Kindermädchen ebenfalls &#x201E;niedlich," so darf man sich nicht wundern, wenn<lb/>
ihnen in einer halben Stunde von Nachbarsleuten und Kaufmcmnslehrlingen<lb/>
alles mögliche Naschwerk zur sofortige,: Vertilgung eingehändigt wird. Zu<lb/>
Hause wird natürlich nichts davon erzählt, und etwaige böse Folgen werden<lb/>
den Zähnen oder den beliebten Erkältungen in die Schuhe geschoben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_70" next="#ID_71"> Eine nie versiegende Quelle von Verdrießlichkeiten sür den Arzt ist die<lb/>
mangelnde Rücksicht auf seine Zeiteinteilung. Jeder Arzt wird sich bei Tag<lb/>
oder Nacht von der Arbeit oder aus heiterer Gesellschaft ohne Murren abrufen<lb/>
lassen, um bei Unglücksfällen oder plötzlichen schweren Erkrankungen Hilfe zu<lb/>
leisten. Wenn ein Straßenjunge an der Nachtglocke zieht, um den Arzt zu<lb/>
foppen, so wird dieser das Unvermeidliche mit Würde tragen. Und wenn, wie<lb/>
es ein Bekannter in einer kleinen Stadt erlebte, des Morgens um zwei Uhr<lb/>
ein Holzschläger, der in den Forst auf Arbeit geht, den aus dem Morgen¬<lb/>
schlummer geweckten Arzt bittet, er möchte doch, wenn er &#x201E;heute" ausginge, zu<lb/>
seinem seit zwei Tagen krank liegenden Schwager mit herankommen, so wird<lb/>
man wenigstens Verständnis für den Humor der Lage haben. Aber für die<lb/>
laufenden Berufsgeschäfte muß eine strenge Zeiteinteilung eingehalten werden,<lb/>
wenn die Stunden nicht nutzlos vergeudet werden sollen. Die Sprechstunde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Der Arzt und der Kranke. weitern Maßnahmen von der Wage abhängig und verspricht in acht Tagen wiederzukommen, um die Ergebnisse der Wägungen zu erfahren. Er kommt und muß von der den besten Ständen angehörigen Mutter die Antwort ver¬ nehmen: „Ach, das Wägen habe ich ganz vergessen, aber heute Nachmittag werde ich gleich damit anfangen." Man erwartet vom Arzte bestimmte Diät¬ vorschriften, und doch wird nichts schlechter befolgt als gerade diese. Daß manche Leute nicht willensstark genug sind, auf den gewohnten Genuß von Kaffee, Bier oder Zigarren zu verzichten, ist bekannt. Gar den Kindern gegen¬ über ist man in dieser Beziehung von erstaunlicher Schwäche. Eine Mutter hat wegen eines Darmkatarrhs ihres Kindes vielleicht zu gleicher Zeit zu drei Ärzten geschickt und hält das gewiß für ein Zeichen großer Sorglichkeit, aber sie ist außer stände, ihrem Lieblinge das Stück verbotenen Kuchens aus der Hand zu nehmen. Ein andres Kind hatte die Ruhr, die Mutter wurde dringend gewarnt, ihm außer der bestimmt vorgeschriebenen Nahrung irgend etwas andres zu reichen. Am nächsten Morgen fand ich den Kleinen mit einem Bissen roher Gurke im Munde. „Ach, ich dachte, das bischen Gurke könnte doch nichts schaden," war die Antwort der Mutter auf meine entrüsteten Vorhaltungen. Viele Menschen haben eine wahre Wut, Kindern Leckerbissen zuzustecken. Thun es die Eltern nicht, so finden sich gute Onkel und Tanten, und namentlich die Kinderfrauen sorgen dafür, daß die Kleinen hier ein „Bonbon," dort eine vielleicht noch unreife Pflaume in das Mäulchen gesteckt bekommen. Ja selbst wildfremde Leute können der Versuchung nicht widerstehen. Sind die Kinder, mit denen das Kindermädchen durch die Straße zieht, „niedlich," und ist gar das Kindermädchen ebenfalls „niedlich," so darf man sich nicht wundern, wenn ihnen in einer halben Stunde von Nachbarsleuten und Kaufmcmnslehrlingen alles mögliche Naschwerk zur sofortige,: Vertilgung eingehändigt wird. Zu Hause wird natürlich nichts davon erzählt, und etwaige böse Folgen werden den Zähnen oder den beliebten Erkältungen in die Schuhe geschoben. Eine nie versiegende Quelle von Verdrießlichkeiten sür den Arzt ist die mangelnde Rücksicht auf seine Zeiteinteilung. Jeder Arzt wird sich bei Tag oder Nacht von der Arbeit oder aus heiterer Gesellschaft ohne Murren abrufen lassen, um bei Unglücksfällen oder plötzlichen schweren Erkrankungen Hilfe zu leisten. Wenn ein Straßenjunge an der Nachtglocke zieht, um den Arzt zu foppen, so wird dieser das Unvermeidliche mit Würde tragen. Und wenn, wie es ein Bekannter in einer kleinen Stadt erlebte, des Morgens um zwei Uhr ein Holzschläger, der in den Forst auf Arbeit geht, den aus dem Morgen¬ schlummer geweckten Arzt bittet, er möchte doch, wenn er „heute" ausginge, zu seinem seit zwei Tagen krank liegenden Schwager mit herankommen, so wird man wenigstens Verständnis für den Humor der Lage haben. Aber für die laufenden Berufsgeschäfte muß eine strenge Zeiteinteilung eingehalten werden, wenn die Stunden nicht nutzlos vergeudet werden sollen. Die Sprechstunde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/32>, abgerufen am 21.06.2024.