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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

Mit blassen Lippen stammelte er: Hat sich nicht David bei der Nacht
verirrt und ist in den Sumpf geraten -- man hat seinen Hut gefunden und
das Tuch, in dem er das Kind, die Nadel, bei sich gehabt hat. Es kann
David nicht sein!

So hält man mich für tot? Aber sieh, ich lebe und freue mich, meinen
Schüler zu sehen und zu wissen, daß es ihm gut geht. Laß mich eintreten,
Rüben, heute bedarf ich deiner Hilfe, ich bin weit gewandert, um mir Rats bei
dir zu erholen.

Rüben zögerte einen Augenblick und sah sich um, als ob er dem Verlangen
Davids gern ausgewichen wäre, öffnete dann aber die Hausthür und ließ David
eintreten. Er musterte ihn dabei noch einmal, als ob er es noch nicht glauben
könnte, daß er leibhaftig vor ihm stünde. Sein Blick war unruhig, als er die
Thür hinter sich schloß, und unschlüssig nagte er an der Unterlippe. Geräusch¬
voll zog er einen Stuhl heran.

Still, sie schläft endlich! sagte David hastig. Vorsichtig seinen Kasten
auseinander schlagend, zeigte er Rüben ein blasses, abgezehrtes Kindchen, in
welchem Rüben die kleine Nadel nicht wieder zu erkennen vermochte. Er sah
zu, wie David das Kind auf einen Sessel legte und sorgsam zudeckte, bot sich
aber nicht an, ihm behilflich zu sein, sondern blickte ihn nur prüfend und nach¬
denklich von der Seite an.

So! Gott sei gelobt, daß ich dich gefunden habe! sagte David und streckte
ihm seine nun freien Hände hin, die Rüben mit verlegener Miene nur flüchtig
berührte. O Rüben! Eine entsetzliche Zeit liegt hinter mir! Aber er ist treu
und legt nicht mehr auf, als wir tragen können. Daß Nadel und ich noch
leben! Es ist mir noch wie ein Wunder. Das zarte Kind! Jedem Wetter,
Schnee und Kälte ausgesetzt, dem Hunger preisgegeben! Wie oft bin ich der
Verzweiflung nahe gewesen! Aber wenn ich in der größten Not war, kam die
Hilfe, und du siehst: wir leben. Wie oft hat mich die Aussicht auf diesen
Augenblick mit neuem Mute erfüllt! Ich wußte nicht, wo Alexei weilt, er reist
umher, aber deinen Aufenthalt kannte ich, und nun ist alles gut, nun wirst du
mir helfen und beistehen.

Wie kann ein ungelehrter, dummer Mensch wie ich dem gelehrten David
beistehen? antwortete Rüben zögernd und verlegen. Aber als ob seine Worte
ihm Mut gäben, fuhr er rascher und sicherer fort: Hast du nicht immer gesagt:
Wissen ist Reichtum? Hat den David seine Gelehrsamkeit verlassen?

David sah ihn bestürzt an, mehr durch den kalten, höhnischen Ton als die
Worte selbst betroffen.

Du hast meine Worte falsch aufgefaßt, denn nie habe ich geglaubt und
gesagt, daß Wissen allein Hunger und Durst stillen könne, es ist nur das
Mittel dazu. Muß ich dich wirklich an deine eignen Worte erinnern, die du
sagtest, als ich mein Widerstreben, dich zu lehren, überwand und --


David Beronski.

Mit blassen Lippen stammelte er: Hat sich nicht David bei der Nacht
verirrt und ist in den Sumpf geraten — man hat seinen Hut gefunden und
das Tuch, in dem er das Kind, die Nadel, bei sich gehabt hat. Es kann
David nicht sein!

So hält man mich für tot? Aber sieh, ich lebe und freue mich, meinen
Schüler zu sehen und zu wissen, daß es ihm gut geht. Laß mich eintreten,
Rüben, heute bedarf ich deiner Hilfe, ich bin weit gewandert, um mir Rats bei
dir zu erholen.

Rüben zögerte einen Augenblick und sah sich um, als ob er dem Verlangen
Davids gern ausgewichen wäre, öffnete dann aber die Hausthür und ließ David
eintreten. Er musterte ihn dabei noch einmal, als ob er es noch nicht glauben
könnte, daß er leibhaftig vor ihm stünde. Sein Blick war unruhig, als er die
Thür hinter sich schloß, und unschlüssig nagte er an der Unterlippe. Geräusch¬
voll zog er einen Stuhl heran.

Still, sie schläft endlich! sagte David hastig. Vorsichtig seinen Kasten
auseinander schlagend, zeigte er Rüben ein blasses, abgezehrtes Kindchen, in
welchem Rüben die kleine Nadel nicht wieder zu erkennen vermochte. Er sah
zu, wie David das Kind auf einen Sessel legte und sorgsam zudeckte, bot sich
aber nicht an, ihm behilflich zu sein, sondern blickte ihn nur prüfend und nach¬
denklich von der Seite an.

So! Gott sei gelobt, daß ich dich gefunden habe! sagte David und streckte
ihm seine nun freien Hände hin, die Rüben mit verlegener Miene nur flüchtig
berührte. O Rüben! Eine entsetzliche Zeit liegt hinter mir! Aber er ist treu
und legt nicht mehr auf, als wir tragen können. Daß Nadel und ich noch
leben! Es ist mir noch wie ein Wunder. Das zarte Kind! Jedem Wetter,
Schnee und Kälte ausgesetzt, dem Hunger preisgegeben! Wie oft bin ich der
Verzweiflung nahe gewesen! Aber wenn ich in der größten Not war, kam die
Hilfe, und du siehst: wir leben. Wie oft hat mich die Aussicht auf diesen
Augenblick mit neuem Mute erfüllt! Ich wußte nicht, wo Alexei weilt, er reist
umher, aber deinen Aufenthalt kannte ich, und nun ist alles gut, nun wirst du
mir helfen und beistehen.

Wie kann ein ungelehrter, dummer Mensch wie ich dem gelehrten David
beistehen? antwortete Rüben zögernd und verlegen. Aber als ob seine Worte
ihm Mut gäben, fuhr er rascher und sicherer fort: Hast du nicht immer gesagt:
Wissen ist Reichtum? Hat den David seine Gelehrsamkeit verlassen?

David sah ihn bestürzt an, mehr durch den kalten, höhnischen Ton als die
Worte selbst betroffen.

Du hast meine Worte falsch aufgefaßt, denn nie habe ich geglaubt und
gesagt, daß Wissen allein Hunger und Durst stillen könne, es ist nur das
Mittel dazu. Muß ich dich wirklich an deine eignen Worte erinnern, die du
sagtest, als ich mein Widerstreben, dich zu lehren, überwand und —


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[0327] David Beronski. Mit blassen Lippen stammelte er: Hat sich nicht David bei der Nacht verirrt und ist in den Sumpf geraten — man hat seinen Hut gefunden und das Tuch, in dem er das Kind, die Nadel, bei sich gehabt hat. Es kann David nicht sein! So hält man mich für tot? Aber sieh, ich lebe und freue mich, meinen Schüler zu sehen und zu wissen, daß es ihm gut geht. Laß mich eintreten, Rüben, heute bedarf ich deiner Hilfe, ich bin weit gewandert, um mir Rats bei dir zu erholen. Rüben zögerte einen Augenblick und sah sich um, als ob er dem Verlangen Davids gern ausgewichen wäre, öffnete dann aber die Hausthür und ließ David eintreten. Er musterte ihn dabei noch einmal, als ob er es noch nicht glauben könnte, daß er leibhaftig vor ihm stünde. Sein Blick war unruhig, als er die Thür hinter sich schloß, und unschlüssig nagte er an der Unterlippe. Geräusch¬ voll zog er einen Stuhl heran. Still, sie schläft endlich! sagte David hastig. Vorsichtig seinen Kasten auseinander schlagend, zeigte er Rüben ein blasses, abgezehrtes Kindchen, in welchem Rüben die kleine Nadel nicht wieder zu erkennen vermochte. Er sah zu, wie David das Kind auf einen Sessel legte und sorgsam zudeckte, bot sich aber nicht an, ihm behilflich zu sein, sondern blickte ihn nur prüfend und nach¬ denklich von der Seite an. So! Gott sei gelobt, daß ich dich gefunden habe! sagte David und streckte ihm seine nun freien Hände hin, die Rüben mit verlegener Miene nur flüchtig berührte. O Rüben! Eine entsetzliche Zeit liegt hinter mir! Aber er ist treu und legt nicht mehr auf, als wir tragen können. Daß Nadel und ich noch leben! Es ist mir noch wie ein Wunder. Das zarte Kind! Jedem Wetter, Schnee und Kälte ausgesetzt, dem Hunger preisgegeben! Wie oft bin ich der Verzweiflung nahe gewesen! Aber wenn ich in der größten Not war, kam die Hilfe, und du siehst: wir leben. Wie oft hat mich die Aussicht auf diesen Augenblick mit neuem Mute erfüllt! Ich wußte nicht, wo Alexei weilt, er reist umher, aber deinen Aufenthalt kannte ich, und nun ist alles gut, nun wirst du mir helfen und beistehen. Wie kann ein ungelehrter, dummer Mensch wie ich dem gelehrten David beistehen? antwortete Rüben zögernd und verlegen. Aber als ob seine Worte ihm Mut gäben, fuhr er rascher und sicherer fort: Hast du nicht immer gesagt: Wissen ist Reichtum? Hat den David seine Gelehrsamkeit verlassen? David sah ihn bestürzt an, mehr durch den kalten, höhnischen Ton als die Worte selbst betroffen. Du hast meine Worte falsch aufgefaßt, denn nie habe ich geglaubt und gesagt, daß Wissen allein Hunger und Durst stillen könne, es ist nur das Mittel dazu. Muß ich dich wirklich an deine eignen Worte erinnern, die du sagtest, als ich mein Widerstreben, dich zu lehren, überwand und —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/327>, abgerufen am 23.06.2024.