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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien.

Sodann aber bedarf es der Bundesgenossen zur Abwehr seines Nebenbuhlers
in Ostasien, und die könnte es sich am besten durch Beitritt zu dem großen
Friedensbunde erwerben, den Deutschland mit Österreich-Ungarn und Italien
geschlossen hat. Gegen die allgemeine Wehrpflicht und gegen ein starkes Heer
überhaupt sträubt sich einerseits die Abneigung des Engländers gegen mili¬
tärische Gebundenheit, anderseits die Furcht vor der Gefahr, welche im soge¬
nannten Militarismus für die innere Freiheit, die Parlamentsherrschaft erblickt
wird. Gegen den Anschluß an die kontinentale Friedensliga aber hat neulich
Gladstone, der in vielen Beziehungen seiner Politik als der Normalengländer
zu gelten hat, sich vernehmen lassen. Darnach hätte England keinerlei Interesse,
sich an festländischen Kriegen zu beteiligen, und somit die Pflicht, ihnen
Gewehr bei Fuß zuzusehen. Mit andern Worten heißt das, ob der Friede auf
dem europäischen Festlande erhalten bleibt oder ein Krieg ausbricht, in welchem
möglicherweise die Friedensliga einem russisch-französischen Bündnis unterliegt, ist
für England gleichgiltig; denn es ist durch seine vorteilhafte geographische Lage
und durch seine Übermacht zur See auf alle Fälle vor Schaden gesichert. Das
ist ein schwachsichtiger und schlecht rechnender Egoismus, der nur an den Anfang
denkt, nicht aber das doch leicht erkennbare Ende sieht und erwägt. England
kann durch Anschluß an die drei Friedensmächte deren Hauptzweck, die Fern-
haltung eines russisch-französischen Angriffs, wesentlich fördern, indem es sie
stärkt. Sein Heer wiegt allerdings in seiner jetzigen Gestalt leicht, schwer aber
seine Flotte und sein Geld. Wäre der Sieg der Friedensliga ohne England
ganz unzweifelhaft zu erwarten, so würde es allerdings bequem sein, wenn man
Gladstones Ratschlägen folgte. Man würde Kosten sparen und doch die Früchte
des Sieges mittelbar mitgenießen. Er ist aber leider nur eine Hoffnung. Und
wie wäre es, wenn Rußland und Frankreich aus dem Kampfe, an dessen Aus¬
bruche die selbstsüchtige Enthaltsamkeit Englands die Mitschuld trüge, siegreich,
kräftiger und ihrer Kraft bewußter als jetzt hervorgingen? Was wäre dann
die Lage Englands, das ohne Freunde diesem Kraftbewußtsein und der damit
bewaffneten alten Nebenbuhlerschaft in Europa und Asien, in der Türkei, im
Mittelmeere und in Indien gegenüberstünde? Meint Gladstone mit der Partei,
die auf seine Worte schwört, die im Stiche gelassenen drei Friedensmächte
würden die Kälte, die er empfiehlt, dann mit warmer Hingebung für die Inter¬
essen Britanniens erwiedern und feurige Kohlen auf dessen Haupt sammeln?
Es wäre das ein Wunder ohne gleichen. Aber kein Wunder, sondern etwas
sehr Natürliches wäre es, wenn sie zu rechter Zeit ihren Frieden mit Nußland
und Frankreich auf Kosten britischer Lebensinteressen machten und u. a. sagten:
Was kümmert uns Englands Einfluß und Besitz im Mittelmeere, was geht uns
der Wert an, den es auf Ägypten legt, und nun gar Indien, was erwächst
uns für Nachteil, wenn das von den Russen noch mehr als jetzt bedroht und
zuletzt erobert wird?


Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien.

Sodann aber bedarf es der Bundesgenossen zur Abwehr seines Nebenbuhlers
in Ostasien, und die könnte es sich am besten durch Beitritt zu dem großen
Friedensbunde erwerben, den Deutschland mit Österreich-Ungarn und Italien
geschlossen hat. Gegen die allgemeine Wehrpflicht und gegen ein starkes Heer
überhaupt sträubt sich einerseits die Abneigung des Engländers gegen mili¬
tärische Gebundenheit, anderseits die Furcht vor der Gefahr, welche im soge¬
nannten Militarismus für die innere Freiheit, die Parlamentsherrschaft erblickt
wird. Gegen den Anschluß an die kontinentale Friedensliga aber hat neulich
Gladstone, der in vielen Beziehungen seiner Politik als der Normalengländer
zu gelten hat, sich vernehmen lassen. Darnach hätte England keinerlei Interesse,
sich an festländischen Kriegen zu beteiligen, und somit die Pflicht, ihnen
Gewehr bei Fuß zuzusehen. Mit andern Worten heißt das, ob der Friede auf
dem europäischen Festlande erhalten bleibt oder ein Krieg ausbricht, in welchem
möglicherweise die Friedensliga einem russisch-französischen Bündnis unterliegt, ist
für England gleichgiltig; denn es ist durch seine vorteilhafte geographische Lage
und durch seine Übermacht zur See auf alle Fälle vor Schaden gesichert. Das
ist ein schwachsichtiger und schlecht rechnender Egoismus, der nur an den Anfang
denkt, nicht aber das doch leicht erkennbare Ende sieht und erwägt. England
kann durch Anschluß an die drei Friedensmächte deren Hauptzweck, die Fern-
haltung eines russisch-französischen Angriffs, wesentlich fördern, indem es sie
stärkt. Sein Heer wiegt allerdings in seiner jetzigen Gestalt leicht, schwer aber
seine Flotte und sein Geld. Wäre der Sieg der Friedensliga ohne England
ganz unzweifelhaft zu erwarten, so würde es allerdings bequem sein, wenn man
Gladstones Ratschlägen folgte. Man würde Kosten sparen und doch die Früchte
des Sieges mittelbar mitgenießen. Er ist aber leider nur eine Hoffnung. Und
wie wäre es, wenn Rußland und Frankreich aus dem Kampfe, an dessen Aus¬
bruche die selbstsüchtige Enthaltsamkeit Englands die Mitschuld trüge, siegreich,
kräftiger und ihrer Kraft bewußter als jetzt hervorgingen? Was wäre dann
die Lage Englands, das ohne Freunde diesem Kraftbewußtsein und der damit
bewaffneten alten Nebenbuhlerschaft in Europa und Asien, in der Türkei, im
Mittelmeere und in Indien gegenüberstünde? Meint Gladstone mit der Partei,
die auf seine Worte schwört, die im Stiche gelassenen drei Friedensmächte
würden die Kälte, die er empfiehlt, dann mit warmer Hingebung für die Inter¬
essen Britanniens erwiedern und feurige Kohlen auf dessen Haupt sammeln?
Es wäre das ein Wunder ohne gleichen. Aber kein Wunder, sondern etwas
sehr Natürliches wäre es, wenn sie zu rechter Zeit ihren Frieden mit Nußland
und Frankreich auf Kosten britischer Lebensinteressen machten und u. a. sagten:
Was kümmert uns Englands Einfluß und Besitz im Mittelmeere, was geht uns
der Wert an, den es auf Ägypten legt, und nun gar Indien, was erwächst
uns für Nachteil, wenn das von den Russen noch mehr als jetzt bedroht und
zuletzt erobert wird?


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[0278] Ein neuer Schritt Rußlands in Turanien. Sodann aber bedarf es der Bundesgenossen zur Abwehr seines Nebenbuhlers in Ostasien, und die könnte es sich am besten durch Beitritt zu dem großen Friedensbunde erwerben, den Deutschland mit Österreich-Ungarn und Italien geschlossen hat. Gegen die allgemeine Wehrpflicht und gegen ein starkes Heer überhaupt sträubt sich einerseits die Abneigung des Engländers gegen mili¬ tärische Gebundenheit, anderseits die Furcht vor der Gefahr, welche im soge¬ nannten Militarismus für die innere Freiheit, die Parlamentsherrschaft erblickt wird. Gegen den Anschluß an die kontinentale Friedensliga aber hat neulich Gladstone, der in vielen Beziehungen seiner Politik als der Normalengländer zu gelten hat, sich vernehmen lassen. Darnach hätte England keinerlei Interesse, sich an festländischen Kriegen zu beteiligen, und somit die Pflicht, ihnen Gewehr bei Fuß zuzusehen. Mit andern Worten heißt das, ob der Friede auf dem europäischen Festlande erhalten bleibt oder ein Krieg ausbricht, in welchem möglicherweise die Friedensliga einem russisch-französischen Bündnis unterliegt, ist für England gleichgiltig; denn es ist durch seine vorteilhafte geographische Lage und durch seine Übermacht zur See auf alle Fälle vor Schaden gesichert. Das ist ein schwachsichtiger und schlecht rechnender Egoismus, der nur an den Anfang denkt, nicht aber das doch leicht erkennbare Ende sieht und erwägt. England kann durch Anschluß an die drei Friedensmächte deren Hauptzweck, die Fern- haltung eines russisch-französischen Angriffs, wesentlich fördern, indem es sie stärkt. Sein Heer wiegt allerdings in seiner jetzigen Gestalt leicht, schwer aber seine Flotte und sein Geld. Wäre der Sieg der Friedensliga ohne England ganz unzweifelhaft zu erwarten, so würde es allerdings bequem sein, wenn man Gladstones Ratschlägen folgte. Man würde Kosten sparen und doch die Früchte des Sieges mittelbar mitgenießen. Er ist aber leider nur eine Hoffnung. Und wie wäre es, wenn Rußland und Frankreich aus dem Kampfe, an dessen Aus¬ bruche die selbstsüchtige Enthaltsamkeit Englands die Mitschuld trüge, siegreich, kräftiger und ihrer Kraft bewußter als jetzt hervorgingen? Was wäre dann die Lage Englands, das ohne Freunde diesem Kraftbewußtsein und der damit bewaffneten alten Nebenbuhlerschaft in Europa und Asien, in der Türkei, im Mittelmeere und in Indien gegenüberstünde? Meint Gladstone mit der Partei, die auf seine Worte schwört, die im Stiche gelassenen drei Friedensmächte würden die Kälte, die er empfiehlt, dann mit warmer Hingebung für die Inter¬ essen Britanniens erwiedern und feurige Kohlen auf dessen Haupt sammeln? Es wäre das ein Wunder ohne gleichen. Aber kein Wunder, sondern etwas sehr Natürliches wäre es, wenn sie zu rechter Zeit ihren Frieden mit Nußland und Frankreich auf Kosten britischer Lebensinteressen machten und u. a. sagten: Was kümmert uns Englands Einfluß und Besitz im Mittelmeere, was geht uns der Wert an, den es auf Ägypten legt, und nun gar Indien, was erwächst uns für Nachteil, wenn das von den Russen noch mehr als jetzt bedroht und zuletzt erobert wird?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/278>, abgerufen am 22.06.2024.