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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

David wendete sich schaudernd ab. Der letzte Blick auf die Gattin seiner
Jugend zeigte sie ihm abschreckend, hart und erbarmungslos, er war sicher, sie
würde ihn mitleidslos opfern.

Neben dem Lager lag eine Decke; er hob sie auf, schlang sie um sich und
Rahel, verließ leise, unhörbar das Gemach und durchschritt wie ein Dieb das Haus.

Aus einem andern Zimmer tönte unterdrücktes Schluchzen. Die Gattin
des Abtrünnigen, welche die Strafe auf sein Haupt herab beschworen hatte,
schlief -- die Mutter beweinte ihren Sohn und wollte sich nicht trösten lassen.
Zu jeder andern Zeit hätten diese Laute David zurückgehalten und gefesselt,
jetzt achtete er kaum darauf. Er mußte sein Kind, seine Rahel in Sicherheit
bringen.

Er zog seine Schuhe wieder an, trat vor das Haus hinaus und ging
durch die Straßen, zwischen den Hünsern hin, die er seit seinen Kinderjahren
täglich gesehen hatte. Er kannte jede Hütte, wußte, wer darin wohnte, aber
er dachte nicht daran, daß er alles jetzt zum letzten male sähe. Fort, fort!
Nur rasch fort!

Vor dem Hause des Karcilten blieb er einen Augenblick stehen, um Rahel
fester einzuhüllen, denn der Wind blies stärker. Aber so leise seine Schritte
auch waren, ein wachsames Ohr hatte sie doch gehört. Jeschka stand sofort am
Fenster und spähte hinaus. Schlaflos hatte sie auf ihrem Lager gelegen und
dnrch das Fenster nach den Sternen empor geblickt. Konnte es der sein, dessen
Tritt sie stets schon von weitem erkannte? Wie kam er nachts hierher, und
was trieb ihn hinaus?

Sie schlich zur Hütte hinaus und eilte ihm flüchtigen Fußes nach. Aber
er war ihr weit voraus und sie sah ihn nicht mehr.

Der Wind war in der Nähe des Teiches viel stärker, und bei einem Ver¬
suche Davids, die Kleine besser einzuhüllen, zerrte er an der Decke, welche David
um sie geschlungen hatte, und entführte sie ihm, indem er zugleich feine Kopf¬
bedeckung herabwehte und beides dem Sumpfe zutrieb, wo es im Röhricht
hängen blieb. Es war für David ein herber Verlust, dennoch dürfte er keinen
Versuch macheu, die Decke wieder zu erlangen. Der Zeitverlust wie die Un¬
möglichkeit, die Nähe des Sumpfes in Sicherheit zu erreichen, verboten es.
So wickelte er das Tuch fester um die Kleine, und indem er sie noch in die
Falten seines Kastens hüllte, ging er unter dem Sternenhimmel dahin, der un-
bekannten Ferne zu, ohne Hilfe, ohne Freunde, allein, mit einem unmün¬
digen, noch der größten Sorgfalt bedürfenden Kinde, verlassen und hilflos, doch
stark in seinem Glauben und seinem festen Vertrauen auf den, der ihn auf so
wunderbare Weise zu sich gezogen hatte. So verlor er sich in dem rasch
herabsinkenden Nebel, der sich um ihn schloß, als wollte er ihn von der Ober¬
fläche der Erde hinweg nehmen.




David Beronski.

David wendete sich schaudernd ab. Der letzte Blick auf die Gattin seiner
Jugend zeigte sie ihm abschreckend, hart und erbarmungslos, er war sicher, sie
würde ihn mitleidslos opfern.

Neben dem Lager lag eine Decke; er hob sie auf, schlang sie um sich und
Rahel, verließ leise, unhörbar das Gemach und durchschritt wie ein Dieb das Haus.

Aus einem andern Zimmer tönte unterdrücktes Schluchzen. Die Gattin
des Abtrünnigen, welche die Strafe auf sein Haupt herab beschworen hatte,
schlief — die Mutter beweinte ihren Sohn und wollte sich nicht trösten lassen.
Zu jeder andern Zeit hätten diese Laute David zurückgehalten und gefesselt,
jetzt achtete er kaum darauf. Er mußte sein Kind, seine Rahel in Sicherheit
bringen.

Er zog seine Schuhe wieder an, trat vor das Haus hinaus und ging
durch die Straßen, zwischen den Hünsern hin, die er seit seinen Kinderjahren
täglich gesehen hatte. Er kannte jede Hütte, wußte, wer darin wohnte, aber
er dachte nicht daran, daß er alles jetzt zum letzten male sähe. Fort, fort!
Nur rasch fort!

Vor dem Hause des Karcilten blieb er einen Augenblick stehen, um Rahel
fester einzuhüllen, denn der Wind blies stärker. Aber so leise seine Schritte
auch waren, ein wachsames Ohr hatte sie doch gehört. Jeschka stand sofort am
Fenster und spähte hinaus. Schlaflos hatte sie auf ihrem Lager gelegen und
dnrch das Fenster nach den Sternen empor geblickt. Konnte es der sein, dessen
Tritt sie stets schon von weitem erkannte? Wie kam er nachts hierher, und
was trieb ihn hinaus?

Sie schlich zur Hütte hinaus und eilte ihm flüchtigen Fußes nach. Aber
er war ihr weit voraus und sie sah ihn nicht mehr.

Der Wind war in der Nähe des Teiches viel stärker, und bei einem Ver¬
suche Davids, die Kleine besser einzuhüllen, zerrte er an der Decke, welche David
um sie geschlungen hatte, und entführte sie ihm, indem er zugleich feine Kopf¬
bedeckung herabwehte und beides dem Sumpfe zutrieb, wo es im Röhricht
hängen blieb. Es war für David ein herber Verlust, dennoch dürfte er keinen
Versuch macheu, die Decke wieder zu erlangen. Der Zeitverlust wie die Un¬
möglichkeit, die Nähe des Sumpfes in Sicherheit zu erreichen, verboten es.
So wickelte er das Tuch fester um die Kleine, und indem er sie noch in die
Falten seines Kastens hüllte, ging er unter dem Sternenhimmel dahin, der un-
bekannten Ferne zu, ohne Hilfe, ohne Freunde, allein, mit einem unmün¬
digen, noch der größten Sorgfalt bedürfenden Kinde, verlassen und hilflos, doch
stark in seinem Glauben und seinem festen Vertrauen auf den, der ihn auf so
wunderbare Weise zu sich gezogen hatte. So verlor er sich in dem rasch
herabsinkenden Nebel, der sich um ihn schloß, als wollte er ihn von der Ober¬
fläche der Erde hinweg nehmen.




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[0264] David Beronski. David wendete sich schaudernd ab. Der letzte Blick auf die Gattin seiner Jugend zeigte sie ihm abschreckend, hart und erbarmungslos, er war sicher, sie würde ihn mitleidslos opfern. Neben dem Lager lag eine Decke; er hob sie auf, schlang sie um sich und Rahel, verließ leise, unhörbar das Gemach und durchschritt wie ein Dieb das Haus. Aus einem andern Zimmer tönte unterdrücktes Schluchzen. Die Gattin des Abtrünnigen, welche die Strafe auf sein Haupt herab beschworen hatte, schlief — die Mutter beweinte ihren Sohn und wollte sich nicht trösten lassen. Zu jeder andern Zeit hätten diese Laute David zurückgehalten und gefesselt, jetzt achtete er kaum darauf. Er mußte sein Kind, seine Rahel in Sicherheit bringen. Er zog seine Schuhe wieder an, trat vor das Haus hinaus und ging durch die Straßen, zwischen den Hünsern hin, die er seit seinen Kinderjahren täglich gesehen hatte. Er kannte jede Hütte, wußte, wer darin wohnte, aber er dachte nicht daran, daß er alles jetzt zum letzten male sähe. Fort, fort! Nur rasch fort! Vor dem Hause des Karcilten blieb er einen Augenblick stehen, um Rahel fester einzuhüllen, denn der Wind blies stärker. Aber so leise seine Schritte auch waren, ein wachsames Ohr hatte sie doch gehört. Jeschka stand sofort am Fenster und spähte hinaus. Schlaflos hatte sie auf ihrem Lager gelegen und dnrch das Fenster nach den Sternen empor geblickt. Konnte es der sein, dessen Tritt sie stets schon von weitem erkannte? Wie kam er nachts hierher, und was trieb ihn hinaus? Sie schlich zur Hütte hinaus und eilte ihm flüchtigen Fußes nach. Aber er war ihr weit voraus und sie sah ihn nicht mehr. Der Wind war in der Nähe des Teiches viel stärker, und bei einem Ver¬ suche Davids, die Kleine besser einzuhüllen, zerrte er an der Decke, welche David um sie geschlungen hatte, und entführte sie ihm, indem er zugleich feine Kopf¬ bedeckung herabwehte und beides dem Sumpfe zutrieb, wo es im Röhricht hängen blieb. Es war für David ein herber Verlust, dennoch dürfte er keinen Versuch macheu, die Decke wieder zu erlangen. Der Zeitverlust wie die Un¬ möglichkeit, die Nähe des Sumpfes in Sicherheit zu erreichen, verboten es. So wickelte er das Tuch fester um die Kleine, und indem er sie noch in die Falten seines Kastens hüllte, ging er unter dem Sternenhimmel dahin, der un- bekannten Ferne zu, ohne Hilfe, ohne Freunde, allein, mit einem unmün¬ digen, noch der größten Sorgfalt bedürfenden Kinde, verlassen und hilflos, doch stark in seinem Glauben und seinem festen Vertrauen auf den, der ihn auf so wunderbare Weise zu sich gezogen hatte. So verlor er sich in dem rasch herabsinkenden Nebel, der sich um ihn schloß, als wollte er ihn von der Ober¬ fläche der Erde hinweg nehmen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/264>, abgerufen am 22.06.2024.