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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Der Impfzwang und seine Durchführung.

Wie die Mehrzahl der deutschen Bundesstaaten, so hat sich aber auch das
deutsche Reich auf die Seite derer gestellt, welche die vorsorgliche Impfung der
Schutzpocken im öffentlichen Interesse verlangen. Daher ist für den jetzigen
Rechtszustand im deutschen Reiche das Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874
maßgebend, dessen wesentliche Bestimmungen ich mit kurzen Worten im folgenden
wiedergebe, wobei ich mich möglichst an den Wortlaut des Gesetzes halte.

Darnach soll der Impfung mit Schutzpocken unterzogen werden: 1. jedes
Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, wenn
es nicht die natürlichen Blattern überstanden hat; 2. jeder Zögling einer öffent¬
lichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und
Abendschulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebens¬
jahr zurückgelegt hat, wenn er nicht in den letzten fünf Jahren die natürlichen
Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist.

Kann der Jmpfpflichtige ohne Gefahr für Leben und Gesundheit nicht geimpft
werden, so ist er binnen Jahresfrist nach Aufhören des Zustandes, welcher diese
Gefahr begründet, der Impfung zu unterziehen. Eine erfolglos gebliebene
Jmpfung ist spätestens im nächsten Jahre und, wenn sie dann wieder erfolglos
bleibt, im dritten Jahre zu wiederholen.

Jede ohne gesetzlichen Grund unterbliebene Impfung ist binnen einer von
der zuständigen Behörde zu setzenden Frist nachzuholen.

Eltern, Pflegeeltern und Vormünder sind gehalten, den Nachweis zu führen,
daß die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem
gesetzlichen Grunde unterblieben ist. Die Vorsteher von Schulanstalten, deren
Zöglinge dem Impfzwang? unterliegen, haben bei der Aufnahme von Schülern
festzustellen, ob die gesetzliche Impfung erfolgt ist, und bei impfpflichtig werdenden
Schülern dafür zu forgen, daß der Jmpfpflicht genügt werde, auch beim Unter¬
bleiben einer Impfung auf deren Nachholung zu dringen.

Eltern, Pflegeeltern, Vormünder, Schulvorstände und Ärzte sollen, wenn
sie es unterlassen, den gedachten Verpflichtungen nachzukommen, mit einer Geld¬
strafe oder mit Haft gestraft werden.

Hiernach ist nicht zu bestreiten, daß das Jmpfgesetz verlangt, jeder Deutsche
solle zweimal in seinem Leben mit Erfolg geimpft werden. Fraglich ist nnr,
wie diese Bestimmung durchgeführt werden soll, und diese Frage in der Praxis
zum Austrag zu bringen und alle Folgen meiner Thätigkeit gezogen zu sehen,
war ich im Laufe des letzten Jahres berufen.

In meinem Polizeibezirke hatte sich ein Vater mehrerer Kinder beharrlich
der Impfung entzogen, und die gegen ihn alljährlich erkannten Polizeistreifen
waren erfolglos geblieben: er stellte sich auf den weiter unten noch darzulegenden
Löweschen Standpunkt einer Steuer als Abfindung für Gesetzesübertretungen.
Er wandte sich dann an den Minister der Medizinalangelcgenheiten und bat um
Dispensation vom Jmpfzwcmge, sowie um Aufhebung des letztern, was ihm natur-


Der Impfzwang und seine Durchführung.

Wie die Mehrzahl der deutschen Bundesstaaten, so hat sich aber auch das
deutsche Reich auf die Seite derer gestellt, welche die vorsorgliche Impfung der
Schutzpocken im öffentlichen Interesse verlangen. Daher ist für den jetzigen
Rechtszustand im deutschen Reiche das Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874
maßgebend, dessen wesentliche Bestimmungen ich mit kurzen Worten im folgenden
wiedergebe, wobei ich mich möglichst an den Wortlaut des Gesetzes halte.

Darnach soll der Impfung mit Schutzpocken unterzogen werden: 1. jedes
Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, wenn
es nicht die natürlichen Blattern überstanden hat; 2. jeder Zögling einer öffent¬
lichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und
Abendschulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebens¬
jahr zurückgelegt hat, wenn er nicht in den letzten fünf Jahren die natürlichen
Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist.

Kann der Jmpfpflichtige ohne Gefahr für Leben und Gesundheit nicht geimpft
werden, so ist er binnen Jahresfrist nach Aufhören des Zustandes, welcher diese
Gefahr begründet, der Impfung zu unterziehen. Eine erfolglos gebliebene
Jmpfung ist spätestens im nächsten Jahre und, wenn sie dann wieder erfolglos
bleibt, im dritten Jahre zu wiederholen.

Jede ohne gesetzlichen Grund unterbliebene Impfung ist binnen einer von
der zuständigen Behörde zu setzenden Frist nachzuholen.

Eltern, Pflegeeltern und Vormünder sind gehalten, den Nachweis zu führen,
daß die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem
gesetzlichen Grunde unterblieben ist. Die Vorsteher von Schulanstalten, deren
Zöglinge dem Impfzwang? unterliegen, haben bei der Aufnahme von Schülern
festzustellen, ob die gesetzliche Impfung erfolgt ist, und bei impfpflichtig werdenden
Schülern dafür zu forgen, daß der Jmpfpflicht genügt werde, auch beim Unter¬
bleiben einer Impfung auf deren Nachholung zu dringen.

Eltern, Pflegeeltern, Vormünder, Schulvorstände und Ärzte sollen, wenn
sie es unterlassen, den gedachten Verpflichtungen nachzukommen, mit einer Geld¬
strafe oder mit Haft gestraft werden.

Hiernach ist nicht zu bestreiten, daß das Jmpfgesetz verlangt, jeder Deutsche
solle zweimal in seinem Leben mit Erfolg geimpft werden. Fraglich ist nnr,
wie diese Bestimmung durchgeführt werden soll, und diese Frage in der Praxis
zum Austrag zu bringen und alle Folgen meiner Thätigkeit gezogen zu sehen,
war ich im Laufe des letzten Jahres berufen.

In meinem Polizeibezirke hatte sich ein Vater mehrerer Kinder beharrlich
der Impfung entzogen, und die gegen ihn alljährlich erkannten Polizeistreifen
waren erfolglos geblieben: er stellte sich auf den weiter unten noch darzulegenden
Löweschen Standpunkt einer Steuer als Abfindung für Gesetzesübertretungen.
Er wandte sich dann an den Minister der Medizinalangelcgenheiten und bat um
Dispensation vom Jmpfzwcmge, sowie um Aufhebung des letztern, was ihm natur-


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[0231] Der Impfzwang und seine Durchführung. Wie die Mehrzahl der deutschen Bundesstaaten, so hat sich aber auch das deutsche Reich auf die Seite derer gestellt, welche die vorsorgliche Impfung der Schutzpocken im öffentlichen Interesse verlangen. Daher ist für den jetzigen Rechtszustand im deutschen Reiche das Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874 maßgebend, dessen wesentliche Bestimmungen ich mit kurzen Worten im folgenden wiedergebe, wobei ich mich möglichst an den Wortlaut des Gesetzes halte. Darnach soll der Impfung mit Schutzpocken unterzogen werden: 1. jedes Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, wenn es nicht die natürlichen Blattern überstanden hat; 2. jeder Zögling einer öffent¬ lichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebens¬ jahr zurückgelegt hat, wenn er nicht in den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist. Kann der Jmpfpflichtige ohne Gefahr für Leben und Gesundheit nicht geimpft werden, so ist er binnen Jahresfrist nach Aufhören des Zustandes, welcher diese Gefahr begründet, der Impfung zu unterziehen. Eine erfolglos gebliebene Jmpfung ist spätestens im nächsten Jahre und, wenn sie dann wieder erfolglos bleibt, im dritten Jahre zu wiederholen. Jede ohne gesetzlichen Grund unterbliebene Impfung ist binnen einer von der zuständigen Behörde zu setzenden Frist nachzuholen. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder sind gehalten, den Nachweis zu führen, daß die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem gesetzlichen Grunde unterblieben ist. Die Vorsteher von Schulanstalten, deren Zöglinge dem Impfzwang? unterliegen, haben bei der Aufnahme von Schülern festzustellen, ob die gesetzliche Impfung erfolgt ist, und bei impfpflichtig werdenden Schülern dafür zu forgen, daß der Jmpfpflicht genügt werde, auch beim Unter¬ bleiben einer Impfung auf deren Nachholung zu dringen. Eltern, Pflegeeltern, Vormünder, Schulvorstände und Ärzte sollen, wenn sie es unterlassen, den gedachten Verpflichtungen nachzukommen, mit einer Geld¬ strafe oder mit Haft gestraft werden. Hiernach ist nicht zu bestreiten, daß das Jmpfgesetz verlangt, jeder Deutsche solle zweimal in seinem Leben mit Erfolg geimpft werden. Fraglich ist nnr, wie diese Bestimmung durchgeführt werden soll, und diese Frage in der Praxis zum Austrag zu bringen und alle Folgen meiner Thätigkeit gezogen zu sehen, war ich im Laufe des letzten Jahres berufen. In meinem Polizeibezirke hatte sich ein Vater mehrerer Kinder beharrlich der Impfung entzogen, und die gegen ihn alljährlich erkannten Polizeistreifen waren erfolglos geblieben: er stellte sich auf den weiter unten noch darzulegenden Löweschen Standpunkt einer Steuer als Abfindung für Gesetzesübertretungen. Er wandte sich dann an den Minister der Medizinalangelcgenheiten und bat um Dispensation vom Jmpfzwcmge, sowie um Aufhebung des letztern, was ihm natur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/231>, abgerufen am 27.06.2024.