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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Freiheit und Selbständigkeit der evangelisch-protestantischen Kirche.

scheidender Gewalt ausgerüstet wurde, auotoritato äövrötoricl et äoeiÄva, so
konnte Staat und Gemeinde das umso ruhiger geschehen lassen, als die Be¬
stimmungen doch nur eben in den Büchern der Gelehrten Geltung hatten und
die damaligen Dogmatiker selbst den Gedanken an etwaige praktische Verwertung
ihrer Lehre so wenig faßten, daß ihnen diese Konzilien nur eine hypothetische
Bedeutung hatten, nicht g.6 E88ö, sondern s-ä dvnL v88<z. Inzwischen fand man
sich doch auch schon ganz wohl bei der bestehenden Ordnung der Dinge, wie
sie war, daß die äußere Kirchenleitung, die ZudsrnMo extörng,, der weltlichen
Behörde allein überlassen wurde, und man war zufrieden, wenn diese, wie es
geschah. Theologen da als Sachkenner zuzog, wo es nötig schien, bei dem 8a-
vrorum reimen, dem Kultus und den gottesdienstlichen Handlungen. So trat
an die Stelle des Territorialsystems bei ruhigem und fast von selbst kommendem
Verlauf der Dinge das Kollegialsystem, das eben darin besteht, die Selbstän¬
digkeit der Kirche in rein geistlichen Dingen zu wahren. Die Kirche wird als
freie Gemeinschaft, oolls^um, als eine selbständige Korporation innerhalb des
Staates betrachtet, die ihr eigentümliches Recht hat; daß dieses Recht durch
das Staatsoberhaupt ausgeübt wird und die Verwaltung von ihm ausgeht,
rechtfertigte man damit, daß dies geschehen sei durch einen Vertrag. Dem war
um freilich nicht so; man wollte aber einen thatsächlichen Zustand, dem ge¬
schichtliche Begründung zukam und der damit vollständig gerechtfertigt ist, eine
rechtliche Begründung geben, eine Verkümmerung von Gesichtspunkten und eine
Beschränktheit, wie wir sie, seitdem wir ein parlamentarisches Leben haben, oft
genug auf politischem Gebiete in den Köpfen wahrgenommen haben.

Im ganzen, wir wiederholen es, hat sich Staat und Kirche durch eine
ganze Reihe von Geschlechtern bei diesem Stande der Dinge wohl befunden.
Der Staat hat seine Aufsicht über die Kirche mit Besonnenheit und maßvoller
Klugheit geführt. Er hat die Schule fern gehalten von dem Druck der Eiferer,
die Familie geschützt vor priesterlicher Bevormundung und die Gemeinde behütet
vor Zerstörung durch theologisches Gezänk. Er hat die Kirche zu einer nütz¬
lichen und heilsamen Anstalt für die breiten Schichten des Volkes gemacht,
welche sie ihm zu Treue, friedfertigen Sinn und willigem Gehorsam erzog;
er hat den Geistlichen das schöne Gut der Freiheit gegeben, das ihnen menschlich
zu fühlen und ohne Falsch zu reden verstattete, und das ihre Würde auch in
den Angen der Gebildeten aufrecht erhielt. Endlich, was die Hauptsache ist,
der protestantische Staat hat bei allen Stürmen, die er durchlebte, nie das
Gefühl der Gesundheit verloren und ist durch alle zu neuer Stärke hindurch
gegangen, während die katholischen Staaten an stets wiederkehrenden Krampf¬
anfällen leiden und von Zuckungen, die den ganzen Körper bis ins innerste
Mark erregen, unheimlich befallen werden. Hat Luther zu dem allen den
Grund gelegt, so dürfen wir in ihm auch den politischen Genius verehren,
der unserm Volke wie seine Freiheit, so seine Kraft eingehaucht hat. Soviel


Die Freiheit und Selbständigkeit der evangelisch-protestantischen Kirche.

scheidender Gewalt ausgerüstet wurde, auotoritato äövrötoricl et äoeiÄva, so
konnte Staat und Gemeinde das umso ruhiger geschehen lassen, als die Be¬
stimmungen doch nur eben in den Büchern der Gelehrten Geltung hatten und
die damaligen Dogmatiker selbst den Gedanken an etwaige praktische Verwertung
ihrer Lehre so wenig faßten, daß ihnen diese Konzilien nur eine hypothetische
Bedeutung hatten, nicht g.6 E88ö, sondern s-ä dvnL v88<z. Inzwischen fand man
sich doch auch schon ganz wohl bei der bestehenden Ordnung der Dinge, wie
sie war, daß die äußere Kirchenleitung, die ZudsrnMo extörng,, der weltlichen
Behörde allein überlassen wurde, und man war zufrieden, wenn diese, wie es
geschah. Theologen da als Sachkenner zuzog, wo es nötig schien, bei dem 8a-
vrorum reimen, dem Kultus und den gottesdienstlichen Handlungen. So trat
an die Stelle des Territorialsystems bei ruhigem und fast von selbst kommendem
Verlauf der Dinge das Kollegialsystem, das eben darin besteht, die Selbstän¬
digkeit der Kirche in rein geistlichen Dingen zu wahren. Die Kirche wird als
freie Gemeinschaft, oolls^um, als eine selbständige Korporation innerhalb des
Staates betrachtet, die ihr eigentümliches Recht hat; daß dieses Recht durch
das Staatsoberhaupt ausgeübt wird und die Verwaltung von ihm ausgeht,
rechtfertigte man damit, daß dies geschehen sei durch einen Vertrag. Dem war
um freilich nicht so; man wollte aber einen thatsächlichen Zustand, dem ge¬
schichtliche Begründung zukam und der damit vollständig gerechtfertigt ist, eine
rechtliche Begründung geben, eine Verkümmerung von Gesichtspunkten und eine
Beschränktheit, wie wir sie, seitdem wir ein parlamentarisches Leben haben, oft
genug auf politischem Gebiete in den Köpfen wahrgenommen haben.

Im ganzen, wir wiederholen es, hat sich Staat und Kirche durch eine
ganze Reihe von Geschlechtern bei diesem Stande der Dinge wohl befunden.
Der Staat hat seine Aufsicht über die Kirche mit Besonnenheit und maßvoller
Klugheit geführt. Er hat die Schule fern gehalten von dem Druck der Eiferer,
die Familie geschützt vor priesterlicher Bevormundung und die Gemeinde behütet
vor Zerstörung durch theologisches Gezänk. Er hat die Kirche zu einer nütz¬
lichen und heilsamen Anstalt für die breiten Schichten des Volkes gemacht,
welche sie ihm zu Treue, friedfertigen Sinn und willigem Gehorsam erzog;
er hat den Geistlichen das schöne Gut der Freiheit gegeben, das ihnen menschlich
zu fühlen und ohne Falsch zu reden verstattete, und das ihre Würde auch in
den Angen der Gebildeten aufrecht erhielt. Endlich, was die Hauptsache ist,
der protestantische Staat hat bei allen Stürmen, die er durchlebte, nie das
Gefühl der Gesundheit verloren und ist durch alle zu neuer Stärke hindurch
gegangen, während die katholischen Staaten an stets wiederkehrenden Krampf¬
anfällen leiden und von Zuckungen, die den ganzen Körper bis ins innerste
Mark erregen, unheimlich befallen werden. Hat Luther zu dem allen den
Grund gelegt, so dürfen wir in ihm auch den politischen Genius verehren,
der unserm Volke wie seine Freiheit, so seine Kraft eingehaucht hat. Soviel


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[0135] Die Freiheit und Selbständigkeit der evangelisch-protestantischen Kirche. scheidender Gewalt ausgerüstet wurde, auotoritato äövrötoricl et äoeiÄva, so konnte Staat und Gemeinde das umso ruhiger geschehen lassen, als die Be¬ stimmungen doch nur eben in den Büchern der Gelehrten Geltung hatten und die damaligen Dogmatiker selbst den Gedanken an etwaige praktische Verwertung ihrer Lehre so wenig faßten, daß ihnen diese Konzilien nur eine hypothetische Bedeutung hatten, nicht g.6 E88ö, sondern s-ä dvnL v88<z. Inzwischen fand man sich doch auch schon ganz wohl bei der bestehenden Ordnung der Dinge, wie sie war, daß die äußere Kirchenleitung, die ZudsrnMo extörng,, der weltlichen Behörde allein überlassen wurde, und man war zufrieden, wenn diese, wie es geschah. Theologen da als Sachkenner zuzog, wo es nötig schien, bei dem 8a- vrorum reimen, dem Kultus und den gottesdienstlichen Handlungen. So trat an die Stelle des Territorialsystems bei ruhigem und fast von selbst kommendem Verlauf der Dinge das Kollegialsystem, das eben darin besteht, die Selbstän¬ digkeit der Kirche in rein geistlichen Dingen zu wahren. Die Kirche wird als freie Gemeinschaft, oolls^um, als eine selbständige Korporation innerhalb des Staates betrachtet, die ihr eigentümliches Recht hat; daß dieses Recht durch das Staatsoberhaupt ausgeübt wird und die Verwaltung von ihm ausgeht, rechtfertigte man damit, daß dies geschehen sei durch einen Vertrag. Dem war um freilich nicht so; man wollte aber einen thatsächlichen Zustand, dem ge¬ schichtliche Begründung zukam und der damit vollständig gerechtfertigt ist, eine rechtliche Begründung geben, eine Verkümmerung von Gesichtspunkten und eine Beschränktheit, wie wir sie, seitdem wir ein parlamentarisches Leben haben, oft genug auf politischem Gebiete in den Köpfen wahrgenommen haben. Im ganzen, wir wiederholen es, hat sich Staat und Kirche durch eine ganze Reihe von Geschlechtern bei diesem Stande der Dinge wohl befunden. Der Staat hat seine Aufsicht über die Kirche mit Besonnenheit und maßvoller Klugheit geführt. Er hat die Schule fern gehalten von dem Druck der Eiferer, die Familie geschützt vor priesterlicher Bevormundung und die Gemeinde behütet vor Zerstörung durch theologisches Gezänk. Er hat die Kirche zu einer nütz¬ lichen und heilsamen Anstalt für die breiten Schichten des Volkes gemacht, welche sie ihm zu Treue, friedfertigen Sinn und willigem Gehorsam erzog; er hat den Geistlichen das schöne Gut der Freiheit gegeben, das ihnen menschlich zu fühlen und ohne Falsch zu reden verstattete, und das ihre Würde auch in den Angen der Gebildeten aufrecht erhielt. Endlich, was die Hauptsache ist, der protestantische Staat hat bei allen Stürmen, die er durchlebte, nie das Gefühl der Gesundheit verloren und ist durch alle zu neuer Stärke hindurch gegangen, während die katholischen Staaten an stets wiederkehrenden Krampf¬ anfällen leiden und von Zuckungen, die den ganzen Körper bis ins innerste Mark erregen, unheimlich befallen werden. Hat Luther zu dem allen den Grund gelegt, so dürfen wir in ihm auch den politischen Genius verehren, der unserm Volke wie seine Freiheit, so seine Kraft eingehaucht hat. Soviel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/135>, abgerufen am 21.06.2024.