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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Vor Briefwechsel zwischen Goethe und Larlyle.

Sind nun aber diese MißHelligkeiten in treuer Beharrlichkeit durchgefochten,
hat der Mensch erkannt, daß man sich von Leiden und Dulden nur durch ein
Streben und Thun zu erholen vermag, daß für den Mangel ein Verdienst, für
den Fehler ein Ersatz zu suchen und zu finden sey, so fühlt er sich behaglich
als einen neuen Menschen.

Dann aber drängt ihn sogleich eine angeborene Güte auch andere" gleiche
Mühe, gleiche Beschwerden zu erleichtern, zu ersparen, seine Mitlebenden über
die innere Natur, über die äußere Welt aufzuklären, zu zeigen, woher die Wider¬
sprüche kommen, wie sie zu vermeiden und auszugleichen find. Dabey aber
gesteht er, daß dem allen ungeachtet im Laufe des Lebens sowohl Äußeres als
Inneres unablässig im Conflict befangen bleibe, und wie man sich deshalb rüsten
müsse, täglich folchen Kampf wiederholt zu bestehen.

Wie sich nun ohne Anmaßung behaupten läßt, daß die deutsche Literatur
in diesem humanen Bezug viel geleistet hat, daß durch sie eine sittlich psycho¬
logische Richtung durchgeht, nicht in asketischer Ängstlichkeit, sondern eine freye
naturgemäße Bildung und heitere Gesetzlichkeit einleitend, so habe ich Herrn
Carlyle's bewundernswürdig tiefes Studium der deutschen Literatur mit Ver¬
gnügen zu beobachten gehabt und mit Antheil bemerkt, wie er nicht allein das
Schöne und Menschliche, Gute und Große bey uns zu finden gewußt, sondern
auch von dem Seinigen, reichlich herübergetragen und uns mit den Schätzen
seines Gemüthes begabt hat. Man muß ihm ein klares Urtheil über unsere
ästhetisch sittlichen Schriftsteller zugestehen, und zugleich eigene Ansichten, wodurch
er an den Tag giebt, daß er auf einem originalen Grund beruhe und aus sich
selbst die Erfordernisse des Guten und Schönen zu entwickeln das Vermögen habe.

In diesem Sinne darf ich ihn wohl für einen Mann halten, der eine
Lehrstelle der Moral mit Einfalt und Reinheit, mit Wirkung und Einfluß be¬
kleiden werde, indem er nach eigen gebildeter Denkweise, nach eingebornen Fähig¬
keiten und erworbenen Kenntnissen, die ihm anvertraute Jugend über ihre wahr¬
haften Pflichten erklären, Einleitung und Antrieb der Gemüther zu sittlicher
Thätigkeit sich zum Augenmerk nehmen, und sie dadurch einer religiösen Voll¬
endung unablässig zuführen werde.

Dem Vorstehenden darf man wohl nunmehr einige Erfahrungsbetrachtnngen
hinzufügen.

Über das Princip, woraus die Sittlichkeit abzuleiten sey, hat man sich nie
vollkommen vereinigen können. Einige haben den Eigennutz als Triebfeder
aller sittlichen Handlungen angenommen; andere wollten den Trieb nach Wohl¬
behagen, nach Glückseligkeit als einzig wirksam finden; wieder andere setzten das
apodiktische Pflichtgebot oben an, und keine dieser Voraussetzungen konnte all¬
gemein anerkannt werden, man mußte es zuletzt am gerathensten finden, ans dem
ganzen Complex der gefunden menschlichen Natur das Sittliche so wie das
Schöne zu entwickeln.


Vor Briefwechsel zwischen Goethe und Larlyle.

Sind nun aber diese MißHelligkeiten in treuer Beharrlichkeit durchgefochten,
hat der Mensch erkannt, daß man sich von Leiden und Dulden nur durch ein
Streben und Thun zu erholen vermag, daß für den Mangel ein Verdienst, für
den Fehler ein Ersatz zu suchen und zu finden sey, so fühlt er sich behaglich
als einen neuen Menschen.

Dann aber drängt ihn sogleich eine angeborene Güte auch andere» gleiche
Mühe, gleiche Beschwerden zu erleichtern, zu ersparen, seine Mitlebenden über
die innere Natur, über die äußere Welt aufzuklären, zu zeigen, woher die Wider¬
sprüche kommen, wie sie zu vermeiden und auszugleichen find. Dabey aber
gesteht er, daß dem allen ungeachtet im Laufe des Lebens sowohl Äußeres als
Inneres unablässig im Conflict befangen bleibe, und wie man sich deshalb rüsten
müsse, täglich folchen Kampf wiederholt zu bestehen.

Wie sich nun ohne Anmaßung behaupten läßt, daß die deutsche Literatur
in diesem humanen Bezug viel geleistet hat, daß durch sie eine sittlich psycho¬
logische Richtung durchgeht, nicht in asketischer Ängstlichkeit, sondern eine freye
naturgemäße Bildung und heitere Gesetzlichkeit einleitend, so habe ich Herrn
Carlyle's bewundernswürdig tiefes Studium der deutschen Literatur mit Ver¬
gnügen zu beobachten gehabt und mit Antheil bemerkt, wie er nicht allein das
Schöne und Menschliche, Gute und Große bey uns zu finden gewußt, sondern
auch von dem Seinigen, reichlich herübergetragen und uns mit den Schätzen
seines Gemüthes begabt hat. Man muß ihm ein klares Urtheil über unsere
ästhetisch sittlichen Schriftsteller zugestehen, und zugleich eigene Ansichten, wodurch
er an den Tag giebt, daß er auf einem originalen Grund beruhe und aus sich
selbst die Erfordernisse des Guten und Schönen zu entwickeln das Vermögen habe.

In diesem Sinne darf ich ihn wohl für einen Mann halten, der eine
Lehrstelle der Moral mit Einfalt und Reinheit, mit Wirkung und Einfluß be¬
kleiden werde, indem er nach eigen gebildeter Denkweise, nach eingebornen Fähig¬
keiten und erworbenen Kenntnissen, die ihm anvertraute Jugend über ihre wahr¬
haften Pflichten erklären, Einleitung und Antrieb der Gemüther zu sittlicher
Thätigkeit sich zum Augenmerk nehmen, und sie dadurch einer religiösen Voll¬
endung unablässig zuführen werde.

Dem Vorstehenden darf man wohl nunmehr einige Erfahrungsbetrachtnngen
hinzufügen.

Über das Princip, woraus die Sittlichkeit abzuleiten sey, hat man sich nie
vollkommen vereinigen können. Einige haben den Eigennutz als Triebfeder
aller sittlichen Handlungen angenommen; andere wollten den Trieb nach Wohl¬
behagen, nach Glückseligkeit als einzig wirksam finden; wieder andere setzten das
apodiktische Pflichtgebot oben an, und keine dieser Voraussetzungen konnte all¬
gemein anerkannt werden, man mußte es zuletzt am gerathensten finden, ans dem
ganzen Complex der gefunden menschlichen Natur das Sittliche so wie das
Schöne zu entwickeln.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/94>, abgerufen am 17.09.2024.