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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

Aufgabe, ans den "Paralipomena" die ursprünglichen Absichten der Dichtung
zu enträtseln, hat sich Scherer überhaupt mit besondrer Vorliebe gewidmet, ist
aber über inhaltlose Vermutungen nirgends hinausgekommen. Nur eine solche
Vermutung als bezeichnend für viele. Scherer will feststellen, inwieweit sich
der Dichter schon vor dem Drucke des Fragments von 1790 mit Plänen über
den weitern Verlauf der Dichtung getragen habe. Er bezieht sich hierbei auf
ein Stück der Paralipomena, welches, wie bereits Düntzer nachgewiesen hatte,
jedenfalls vor dem Januar 1790 geschrieben sein muß.


Was giebt's. Mephisto? hast du Eil?
Was schlägst vor'in Kreuz die Augen nieder?

Faust:
Mephisto:

Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil;
Allein genug, mir ist's einmal zuwider.


Hierzu geben die Paralipomena folgende Szenerie an: "Landstraße. Ein Kreuz
am Wege; rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein Bauer-
hüttchen." Scherer sagt nun: "Ich finde die dekorativen Elemente des fünften
Aktes vom zweiten Teile wieder: die Kapelle, in welcher Philemon und Baucis
zu Fausts Ärger "läuten, knieen, beten", Fausts Palast; die Hütte der beiden
Alten. Natürlich wagt man nichts weiter darauf zu bauen; die Ähnlichkeit nicht
zu bemerken aber wäre stumpfsinnig." In der That, wie beschämend für die
deutsche Wissenschaft, daß keinem der frühern Fausterklärer die schlagende Ähn¬
lichkeit aufgefallen ist zwischen dem alten Schloß auf dem Hügel und dem neuer-
bauten Palast Fausts am flachen Meeresstrande, zwischen dem Bauernhüttchen in
der Ferne und der Hütte Philemvns in der unmittelbaren Nachbarschaft, zwischen
dem Kreuz am Wege und der Kapelle, die wegen des Glockengeläutes den alten
Faust belästigt!

Der Leser wird an diesen Proben genug haben. Indes können wir ihm
die Bekanntschaft mit einer weitern Behauptung doch nicht ersparen, mit der Be¬
hauptung nämlich, daß die Szene, die uns Gretchen vor dem Muttergottesbilde
vorführt, ursprünglich bestimmt gewesen sei, die zum ersten Entwurf gehörige
Domszene zu ersetzen, daß uach den ursprünglichen Absichten des Dichters nicht
beide Szenen zugleich in der Dichtung stehen sollten. Ähnliches behauptet Scherer
in Bezug auf die Szene "Wald und Höhle," die mit den Worten beginnt:
"Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles." Diese Szene, welche nach-
gewiesenermaßen in den Jahren 1788 oder 1789 entstanden ist, soll zum Ersatz
der mehrerwühnten Prvsaszene bestimmt gewesen sein. Die letztere Behauptung
wird sogar von Loeper mir zu den Haupteutdccknngen gerechnet, welche als
greifbare Ergebnisse der methodischen Kritik Scherers gelten könnten.

In Bezug auf die erwähnten beiden Gretchenszenen sagt Scherer: "Beidemal
dasselbe Motiv, Gretchen betend, von ihren Gedanken gefoltert. In der ältern
Fassung mehr dramatisch-furchtbar, in der jungem mehr lyrisch-tröstlich." (!)
Ebenso über die beiden andern Szenen: "Die Hauptmotive kehren wieder; Faust


Grenzboten II. 1887. 80
Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

Aufgabe, ans den „Paralipomena" die ursprünglichen Absichten der Dichtung
zu enträtseln, hat sich Scherer überhaupt mit besondrer Vorliebe gewidmet, ist
aber über inhaltlose Vermutungen nirgends hinausgekommen. Nur eine solche
Vermutung als bezeichnend für viele. Scherer will feststellen, inwieweit sich
der Dichter schon vor dem Drucke des Fragments von 1790 mit Plänen über
den weitern Verlauf der Dichtung getragen habe. Er bezieht sich hierbei auf
ein Stück der Paralipomena, welches, wie bereits Düntzer nachgewiesen hatte,
jedenfalls vor dem Januar 1790 geschrieben sein muß.


Was giebt's. Mephisto? hast du Eil?
Was schlägst vor'in Kreuz die Augen nieder?

Faust:
Mephisto:

Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil;
Allein genug, mir ist's einmal zuwider.


Hierzu geben die Paralipomena folgende Szenerie an: „Landstraße. Ein Kreuz
am Wege; rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein Bauer-
hüttchen." Scherer sagt nun: „Ich finde die dekorativen Elemente des fünften
Aktes vom zweiten Teile wieder: die Kapelle, in welcher Philemon und Baucis
zu Fausts Ärger »läuten, knieen, beten«, Fausts Palast; die Hütte der beiden
Alten. Natürlich wagt man nichts weiter darauf zu bauen; die Ähnlichkeit nicht
zu bemerken aber wäre stumpfsinnig." In der That, wie beschämend für die
deutsche Wissenschaft, daß keinem der frühern Fausterklärer die schlagende Ähn¬
lichkeit aufgefallen ist zwischen dem alten Schloß auf dem Hügel und dem neuer-
bauten Palast Fausts am flachen Meeresstrande, zwischen dem Bauernhüttchen in
der Ferne und der Hütte Philemvns in der unmittelbaren Nachbarschaft, zwischen
dem Kreuz am Wege und der Kapelle, die wegen des Glockengeläutes den alten
Faust belästigt!

Der Leser wird an diesen Proben genug haben. Indes können wir ihm
die Bekanntschaft mit einer weitern Behauptung doch nicht ersparen, mit der Be¬
hauptung nämlich, daß die Szene, die uns Gretchen vor dem Muttergottesbilde
vorführt, ursprünglich bestimmt gewesen sei, die zum ersten Entwurf gehörige
Domszene zu ersetzen, daß uach den ursprünglichen Absichten des Dichters nicht
beide Szenen zugleich in der Dichtung stehen sollten. Ähnliches behauptet Scherer
in Bezug auf die Szene „Wald und Höhle," die mit den Worten beginnt:
„Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles." Diese Szene, welche nach-
gewiesenermaßen in den Jahren 1788 oder 1789 entstanden ist, soll zum Ersatz
der mehrerwühnten Prvsaszene bestimmt gewesen sein. Die letztere Behauptung
wird sogar von Loeper mir zu den Haupteutdccknngen gerechnet, welche als
greifbare Ergebnisse der methodischen Kritik Scherers gelten könnten.

In Bezug auf die erwähnten beiden Gretchenszenen sagt Scherer: „Beidemal
dasselbe Motiv, Gretchen betend, von ihren Gedanken gefoltert. In der ältern
Fassung mehr dramatisch-furchtbar, in der jungem mehr lyrisch-tröstlich." (!)
Ebenso über die beiden andern Szenen: „Die Hauptmotive kehren wieder; Faust


Grenzboten II. 1887. 80
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[0641] Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust. Aufgabe, ans den „Paralipomena" die ursprünglichen Absichten der Dichtung zu enträtseln, hat sich Scherer überhaupt mit besondrer Vorliebe gewidmet, ist aber über inhaltlose Vermutungen nirgends hinausgekommen. Nur eine solche Vermutung als bezeichnend für viele. Scherer will feststellen, inwieweit sich der Dichter schon vor dem Drucke des Fragments von 1790 mit Plänen über den weitern Verlauf der Dichtung getragen habe. Er bezieht sich hierbei auf ein Stück der Paralipomena, welches, wie bereits Düntzer nachgewiesen hatte, jedenfalls vor dem Januar 1790 geschrieben sein muß. Was giebt's. Mephisto? hast du Eil? Was schlägst vor'in Kreuz die Augen nieder? Faust: Mephisto: Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil; Allein genug, mir ist's einmal zuwider. Hierzu geben die Paralipomena folgende Szenerie an: „Landstraße. Ein Kreuz am Wege; rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein Bauer- hüttchen." Scherer sagt nun: „Ich finde die dekorativen Elemente des fünften Aktes vom zweiten Teile wieder: die Kapelle, in welcher Philemon und Baucis zu Fausts Ärger »läuten, knieen, beten«, Fausts Palast; die Hütte der beiden Alten. Natürlich wagt man nichts weiter darauf zu bauen; die Ähnlichkeit nicht zu bemerken aber wäre stumpfsinnig." In der That, wie beschämend für die deutsche Wissenschaft, daß keinem der frühern Fausterklärer die schlagende Ähn¬ lichkeit aufgefallen ist zwischen dem alten Schloß auf dem Hügel und dem neuer- bauten Palast Fausts am flachen Meeresstrande, zwischen dem Bauernhüttchen in der Ferne und der Hütte Philemvns in der unmittelbaren Nachbarschaft, zwischen dem Kreuz am Wege und der Kapelle, die wegen des Glockengeläutes den alten Faust belästigt! Der Leser wird an diesen Proben genug haben. Indes können wir ihm die Bekanntschaft mit einer weitern Behauptung doch nicht ersparen, mit der Be¬ hauptung nämlich, daß die Szene, die uns Gretchen vor dem Muttergottesbilde vorführt, ursprünglich bestimmt gewesen sei, die zum ersten Entwurf gehörige Domszene zu ersetzen, daß uach den ursprünglichen Absichten des Dichters nicht beide Szenen zugleich in der Dichtung stehen sollten. Ähnliches behauptet Scherer in Bezug auf die Szene „Wald und Höhle," die mit den Worten beginnt: „Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles." Diese Szene, welche nach- gewiesenermaßen in den Jahren 1788 oder 1789 entstanden ist, soll zum Ersatz der mehrerwühnten Prvsaszene bestimmt gewesen sein. Die letztere Behauptung wird sogar von Loeper mir zu den Haupteutdccknngen gerechnet, welche als greifbare Ergebnisse der methodischen Kritik Scherers gelten könnten. In Bezug auf die erwähnten beiden Gretchenszenen sagt Scherer: „Beidemal dasselbe Motiv, Gretchen betend, von ihren Gedanken gefoltert. In der ältern Fassung mehr dramatisch-furchtbar, in der jungem mehr lyrisch-tröstlich." (!) Ebenso über die beiden andern Szenen: „Die Hauptmotive kehren wieder; Faust Grenzboten II. 1887. 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/641>, abgerufen am 17.09.2024.