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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

werden, eine andre Stelle des Briefes in seinen Fauststudien angeführt. Wenn
er also mit etwas mehr Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gearbeitet hätte, so
hätte er das Verfehlte seiner Vermutung einsehen müssen.

Nicht besser steht es um die Ansichten Scherers über die Szene "Nacht,
offen Feld" (Faust und Mephistopheles auf schwarzen Pferden daherbrausend).
Hier zeigt sich recht deutlich, wie Scherer durch die krankhafte Sucht nach
originellen Behauptungen sich selber mitunter die reine und offene Empfindung
für die Schönheiten der Dichtung zerstört hat. Er sagt: "Die Szene "Nacht,
offen Feld," in welcher Faust und Mephisto auf schwarzen Pferden daher-
brausen und eine Hexenzunft um den Rabenstein beschäftigt erblicken, hat, wo
sie jetzt steht, etwas sonderbares. Sie giebt freilich ein grandioses Bild; aber
man sieht ihren Zweck nicht ein. Faust und der Zuschauer erfahren daraus
nichts, was sie nicht schon wüßten; die Beziehung auf Gretchen ist leicht zu
erraten. Das Motiv des Dialogs scheint zu sein: Faust wünscht zu erfahren,
was die Hexen treiben; Mephisto aber drängt ihn vorüber. Es ist ebenso auf¬
fallend, daß Mephisto hier mehr Eile haben sollte als Faust, wie es auffallend
wäre, daß Faust uicht von selbst sofort an Gretchen denken sollte. Müssen
wir aber die kleine Szene hier ausscheiden, so könnte sie sehr wohl den eigent¬
lichen Anfang der vorhergehenden gebildet haben, und die Szenerie "Nacht, offen
Feld" wäre auf diese mitzubeziehen. Mephisto will den Faust vorbeidrängen;
aber -- so hätte die Fortsetzung lauten müssen -- Faust läßt sich nicht vorbei¬
drängen; er tritt näher und erfährt aus den Reden oder Gesängen der Hexen,
in welcher Lage sich Gretchen befindet und was ihr droht. Die Hexen ent¬
fliehen, Faust stellt den Mephisto zur Rede: hier setzt die prosaische Szene ein."

Es genügt hier, Scherers eigne Worte zu zitiren; mit einer Widerlegung
brauchen wir uns wohl nicht aufzuhalten.

Noch muß erwähnt werden, daß nach Scherer Goethe in der Zeit des
Prosa-Faust die Dichtung anders fortsetzen wollte als später in der Zeit des
in Verse gebrachten Faust. Der Held des ersten Entwurfs sollte als ein Mär¬
tyrer der Wissenschaft und Gedankenfreiheit enden, wogegen der Held der ge¬
reimten Umarbeitung in künstlerischem Schaffen Sühne und Erlösung finden
sollte. Diese Vermutungen sucht Scherer dadurch zu stützen, daß er aus den
Szenenbrnchstücken, die unter dem Titel "Paralipomena zu Faust" gedruckt
wurden, die ursprünglich vorhandenen und später wieder fallen gelassenen Ab¬
sichten des Dichters wiedererkennen will. Zur Begründung seiner Ansicht über
die mutmaßliche Fortsetzung des Prosa-Faust weist er darauf hin, daß in den
Bruchstücken der Szenen am kaiserlichen Hofe der Bischof einmal eine von
Mephistopheles persiflirte unduldsame Äußerung thut. Daß dies aber gar
nichts beweist, geht schon daraus hervor, daß ein solcher von Mephistopheles
verspotteter unduldsamer Kirchenfürst auch in der gegenwärtigen Gestalt des
zweiten Teiles der Dichtung vorkommt. Der schwierigen und ungemein anziehenden


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust.

werden, eine andre Stelle des Briefes in seinen Fauststudien angeführt. Wenn
er also mit etwas mehr Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gearbeitet hätte, so
hätte er das Verfehlte seiner Vermutung einsehen müssen.

Nicht besser steht es um die Ansichten Scherers über die Szene „Nacht,
offen Feld" (Faust und Mephistopheles auf schwarzen Pferden daherbrausend).
Hier zeigt sich recht deutlich, wie Scherer durch die krankhafte Sucht nach
originellen Behauptungen sich selber mitunter die reine und offene Empfindung
für die Schönheiten der Dichtung zerstört hat. Er sagt: „Die Szene »Nacht,
offen Feld,« in welcher Faust und Mephisto auf schwarzen Pferden daher-
brausen und eine Hexenzunft um den Rabenstein beschäftigt erblicken, hat, wo
sie jetzt steht, etwas sonderbares. Sie giebt freilich ein grandioses Bild; aber
man sieht ihren Zweck nicht ein. Faust und der Zuschauer erfahren daraus
nichts, was sie nicht schon wüßten; die Beziehung auf Gretchen ist leicht zu
erraten. Das Motiv des Dialogs scheint zu sein: Faust wünscht zu erfahren,
was die Hexen treiben; Mephisto aber drängt ihn vorüber. Es ist ebenso auf¬
fallend, daß Mephisto hier mehr Eile haben sollte als Faust, wie es auffallend
wäre, daß Faust uicht von selbst sofort an Gretchen denken sollte. Müssen
wir aber die kleine Szene hier ausscheiden, so könnte sie sehr wohl den eigent¬
lichen Anfang der vorhergehenden gebildet haben, und die Szenerie »Nacht, offen
Feld« wäre auf diese mitzubeziehen. Mephisto will den Faust vorbeidrängen;
aber — so hätte die Fortsetzung lauten müssen — Faust läßt sich nicht vorbei¬
drängen; er tritt näher und erfährt aus den Reden oder Gesängen der Hexen,
in welcher Lage sich Gretchen befindet und was ihr droht. Die Hexen ent¬
fliehen, Faust stellt den Mephisto zur Rede: hier setzt die prosaische Szene ein."

Es genügt hier, Scherers eigne Worte zu zitiren; mit einer Widerlegung
brauchen wir uns wohl nicht aufzuhalten.

Noch muß erwähnt werden, daß nach Scherer Goethe in der Zeit des
Prosa-Faust die Dichtung anders fortsetzen wollte als später in der Zeit des
in Verse gebrachten Faust. Der Held des ersten Entwurfs sollte als ein Mär¬
tyrer der Wissenschaft und Gedankenfreiheit enden, wogegen der Held der ge¬
reimten Umarbeitung in künstlerischem Schaffen Sühne und Erlösung finden
sollte. Diese Vermutungen sucht Scherer dadurch zu stützen, daß er aus den
Szenenbrnchstücken, die unter dem Titel „Paralipomena zu Faust" gedruckt
wurden, die ursprünglich vorhandenen und später wieder fallen gelassenen Ab¬
sichten des Dichters wiedererkennen will. Zur Begründung seiner Ansicht über
die mutmaßliche Fortsetzung des Prosa-Faust weist er darauf hin, daß in den
Bruchstücken der Szenen am kaiserlichen Hofe der Bischof einmal eine von
Mephistopheles persiflirte unduldsame Äußerung thut. Daß dies aber gar
nichts beweist, geht schon daraus hervor, daß ein solcher von Mephistopheles
verspotteter unduldsamer Kirchenfürst auch in der gegenwärtigen Gestalt des
zweiten Teiles der Dichtung vorkommt. Der schwierigen und ungemein anziehenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/640>, abgerufen am 17.09.2024.