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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust,

ersten Teil (1808) erschien, noch in die Jugendzeit des Dichters zurückreichen
müsse. Goethe bemerkt in einem Briefe an Schiller vom 5. Mai 1798: "Meinen
Faust habe ich um ein Gutes weiter gebracht. Das alte, noch vorrätige höchst
konfuse Manuskript ist abgeschrieben, und die Teile sind in abgesonderten Lagen
nach deu Nummern eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt; nun
kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Teile weiter aus¬
zuführen und das Ganze früher oder später zusammenzustellen. Ein sehr
sonderbarer Fall erscheint dabei: einige tragische Szenen waren in Prosa ge¬
schrieben, sie sind durch ihre Natürlichkeit und Stärke im Verhältnis gegen das
andre ganz unerträglich. Ich suche sie deswegen in Reime zu bringen, da denn
die Idee wie durch einen Flor durchscheint und die unmittelbare Wirkung des
ungeheuern Stoffes gedämpft wird." Nun finden wir in der That in dem
vollendeten ersten Teile eine früher ungedruckte tragische Szene in Prosa, die
Szene "Trüber Tag, Feld" (Faust hat soeben von Gretchens Unglück gehört
und beschließt, sie zu retten). In dieser Szene wird Mephistopheles ebenso wie
in dem Fragment von 1790 als Abgesandter des Erdgeistes aufgefaßt; Faust
ruft aus: "Großer, herrlicher Geist, der du mir zu erscheinen würdigtest, der
du mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgescllcn mich
schmieden, der sich am Schaden weidet und am Verderbe" sich letzt " Diese
Stelle im Verein mit der Aussage Goethes in seinem Briefe an Schiller be¬
rechtigt uns zu der Annahme, daß die Prosaszene mit zu der ältesten Schicht
der Faustdichtung gehört. Freilich scheint dem ein äußeres Zeugnis im
Wege zu stehen. Riemer, der seit 1803 als literarischer Gehilfe Goethes und
als Erzieher seines Sohnes August in Goethes Haus weilte, erzählt in seineu
"Mitteilungen über Goethe" (1841), Goethe habe später gewöhnlich das, was
poetischer Erguß der Empfindung, der Leidenschaft und dergleichen gewesen sei,
schon im Stillen für sich allein konzipirt und mit halben Worten zu Papier
gebracht, dann in nochmaligem Überdenken einem Vertrauten in die Feder ge¬
sagt, um es so mit einem male reinlich und in einem Gusse vor sich zu scheu.
"So z. B. im Faust die erste Szene nach dem Walpurgisnachttraum "Trüber
Tag, Feld," die ich eines Morgens, fast unmittelbar nach der Konzeption, auf
sein Diktat niederschrieb." Aber es ist sehr wohl denkbar, daß bei einem so
lange vergangenen Ereignis eine Täuschung des Gedächtnisses von seiten Riemers
vorliegt, daß er entweder die Szene mit einer andern verwechselte oder daß er
sich insofern irrte, als Goethes Diktat nicht auf einem kurz vorher konzipirten,
sondern auf einem schon seit längerer Zeit vorhandenen Entwurf beruhte. Denn
als Riemer in Goethes Dienste trat, war dieser schon längst mit sich darüber
einig, daß die Erscheinung des Mephistopheles in ganz andrer Weise motivirt
werden sollte, als es ursprünglich geplant war und als es in unsrer Szene
noch geschieht. Und so haben denn auch seit Weiße (1837) eine ganze Reihe
von Erklärern die Szene mit unter die ältesten gerechnet, ohne sich durch die


Wilhelm Scherer über die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust,

ersten Teil (1808) erschien, noch in die Jugendzeit des Dichters zurückreichen
müsse. Goethe bemerkt in einem Briefe an Schiller vom 5. Mai 1798: „Meinen
Faust habe ich um ein Gutes weiter gebracht. Das alte, noch vorrätige höchst
konfuse Manuskript ist abgeschrieben, und die Teile sind in abgesonderten Lagen
nach deu Nummern eines ausführlichen Schemas hinter einander gelegt; nun
kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Teile weiter aus¬
zuführen und das Ganze früher oder später zusammenzustellen. Ein sehr
sonderbarer Fall erscheint dabei: einige tragische Szenen waren in Prosa ge¬
schrieben, sie sind durch ihre Natürlichkeit und Stärke im Verhältnis gegen das
andre ganz unerträglich. Ich suche sie deswegen in Reime zu bringen, da denn
die Idee wie durch einen Flor durchscheint und die unmittelbare Wirkung des
ungeheuern Stoffes gedämpft wird." Nun finden wir in der That in dem
vollendeten ersten Teile eine früher ungedruckte tragische Szene in Prosa, die
Szene „Trüber Tag, Feld" (Faust hat soeben von Gretchens Unglück gehört
und beschließt, sie zu retten). In dieser Szene wird Mephistopheles ebenso wie
in dem Fragment von 1790 als Abgesandter des Erdgeistes aufgefaßt; Faust
ruft aus: „Großer, herrlicher Geist, der du mir zu erscheinen würdigtest, der
du mein Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgescllcn mich
schmieden, der sich am Schaden weidet und am Verderbe» sich letzt " Diese
Stelle im Verein mit der Aussage Goethes in seinem Briefe an Schiller be¬
rechtigt uns zu der Annahme, daß die Prosaszene mit zu der ältesten Schicht
der Faustdichtung gehört. Freilich scheint dem ein äußeres Zeugnis im
Wege zu stehen. Riemer, der seit 1803 als literarischer Gehilfe Goethes und
als Erzieher seines Sohnes August in Goethes Haus weilte, erzählt in seineu
„Mitteilungen über Goethe" (1841), Goethe habe später gewöhnlich das, was
poetischer Erguß der Empfindung, der Leidenschaft und dergleichen gewesen sei,
schon im Stillen für sich allein konzipirt und mit halben Worten zu Papier
gebracht, dann in nochmaligem Überdenken einem Vertrauten in die Feder ge¬
sagt, um es so mit einem male reinlich und in einem Gusse vor sich zu scheu.
„So z. B. im Faust die erste Szene nach dem Walpurgisnachttraum »Trüber
Tag, Feld,« die ich eines Morgens, fast unmittelbar nach der Konzeption, auf
sein Diktat niederschrieb." Aber es ist sehr wohl denkbar, daß bei einem so
lange vergangenen Ereignis eine Täuschung des Gedächtnisses von seiten Riemers
vorliegt, daß er entweder die Szene mit einer andern verwechselte oder daß er
sich insofern irrte, als Goethes Diktat nicht auf einem kurz vorher konzipirten,
sondern auf einem schon seit längerer Zeit vorhandenen Entwurf beruhte. Denn
als Riemer in Goethes Dienste trat, war dieser schon längst mit sich darüber
einig, daß die Erscheinung des Mephistopheles in ganz andrer Weise motivirt
werden sollte, als es ursprünglich geplant war und als es in unsrer Szene
noch geschieht. Und so haben denn auch seit Weiße (1837) eine ganze Reihe
von Erklärern die Szene mit unter die ältesten gerechnet, ohne sich durch die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/634>, abgerufen am 17.09.2024.