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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Maharcidschah Dulip Singh.

wo sie jetzt längst häuslich eingerichtet sind, so müßte England Herat besetzen. Und
es giebt noch weiter zurückliegende Thatsachen der Art, deren eine wir bei dieser
Gelegenheit der Vergessenheit, der sie verfallen zu sein scheint, entreißen wollen.

Im Spätherbst 1838 griff eine englische Armee Afghanistan an, vertrieb
den Emir Dhost Mohamed, der keinen Anlaß zu Feindseligkeiten gegeben hatte,
und setzte einen aus Afghanistan verjagten, elenden Prätendenten, Schah
Schudscha, auf den Thron. Im Januar 1842 traten die Engländer 12000 Mann
stark den Rückzug an. Der Oberbefehlshaber Lord Elphinstone fiel in Gefangen¬
schaft; die übrigen erlagen den Waffen der Afghanen, dem Hunger, der Kälte
bis auf einen, den Bataillonsarzt Dr. Brydon. Schah Schudschcch, der hinter
seinen Beschützern flüchten wollte, wurde in einem Straßengraben erschossen;
Dhost Mohamed kehrte nach Kabul zurück. Natürlich gab es, wie Carlyle zu
sagen liebte, viel parlamentarische Beredsamkeit darüber, wer für diesen so uner¬
klärlichen und so unglücklich abgelaufenen Krieg verantwortlich sei: das Mini¬
sterium in London, der Generalgouvemeur Lord Auckland in Kalkutta, die
Ostindische Kompagnie, der Aufsichtshof, das geheime Komitee des Hofes der
Direktoren oder wer sonst. Jeder versicherte, er sei unschuldig; doch um ein
Ende zu machen, erklärte der Präsident des Anfsichtshofes, Lord Broughton,
er übernehme die Verantwortlichkeit. Man belobte seine antike Aufopferung,
bedauerte sein irriges Urteil, beschloß, um die Niederlage zu rächen, einen
zweiten Krieg und rechnete im Parlament den ersten zur alten Historie. Auch
die zahlreichen Privatquellen, welche dem Geschichtschreiber der afghanischen
Feldzüge Sir John Kaye zuflossen, brachten keinen Aufschluß. Aber im Jahre
1878 erschien eine Lebensbeschreibung Lord Melbournes, in der folgende Briefe
abgedruckt sind.

(Lord Melbourne an Spring-Rice, 29. Oktober 1838.) Auckland hat den Weg
eingeschlagen, den wir, als wir unsrer sieben in Windsor versammelt waren, ihm
zu empfehlen beschlossen, d. h. nicht Mac Neith (des Gesandten in Teheran) Rat
zu folgen, nicht von Buschir aus in Persien einzurücken, sondern entscheidende
Maßregeln in Afghanistan zu ergreifen. Es ist ein entscheidender Zug, der zu
wichtigen Ereignissen führen kann, aber, wie ich glaube, notwendig. Es handelt
sich um keine geringere Frage als die, wer Herr in Zentralasien sein soll!

(Lord Palmerston an Lord Melbourne, 31. Oktober 1838.) Hier sind die
indischen Depeschen. Auckland scheint die richtige Ansicht darüber zu haben, wie
wichtig es ist, Afghanistan zu einer britischen Dependenz zu machen, da der Auto¬
krat entschlossen ist, das Land nicht sich selbst zu überlassen. Wenn es uns gelingt,
die Afghanen unter unsre Protektion zu nehmen, und wenn nötig, in Herat eine
Besatzung zu halten, so werden wir unser Uebergewicht in Persien wieder gewinnen
und auch unsern Handelsvertrag mit dieser Macht durchsetzen.

Es werden nicht wieder fünfzig Jahre, aber es wird immerhin einige Zeit
darüber vergehen, bis das Schicksal Herats sich entscheidet, und inzwischen wird
Dulip Singh eine Figur auf dem Schachbrett der zentralasiatischen Politik sein.


Maharcidschah Dulip Singh.

wo sie jetzt längst häuslich eingerichtet sind, so müßte England Herat besetzen. Und
es giebt noch weiter zurückliegende Thatsachen der Art, deren eine wir bei dieser
Gelegenheit der Vergessenheit, der sie verfallen zu sein scheint, entreißen wollen.

Im Spätherbst 1838 griff eine englische Armee Afghanistan an, vertrieb
den Emir Dhost Mohamed, der keinen Anlaß zu Feindseligkeiten gegeben hatte,
und setzte einen aus Afghanistan verjagten, elenden Prätendenten, Schah
Schudscha, auf den Thron. Im Januar 1842 traten die Engländer 12000 Mann
stark den Rückzug an. Der Oberbefehlshaber Lord Elphinstone fiel in Gefangen¬
schaft; die übrigen erlagen den Waffen der Afghanen, dem Hunger, der Kälte
bis auf einen, den Bataillonsarzt Dr. Brydon. Schah Schudschcch, der hinter
seinen Beschützern flüchten wollte, wurde in einem Straßengraben erschossen;
Dhost Mohamed kehrte nach Kabul zurück. Natürlich gab es, wie Carlyle zu
sagen liebte, viel parlamentarische Beredsamkeit darüber, wer für diesen so uner¬
klärlichen und so unglücklich abgelaufenen Krieg verantwortlich sei: das Mini¬
sterium in London, der Generalgouvemeur Lord Auckland in Kalkutta, die
Ostindische Kompagnie, der Aufsichtshof, das geheime Komitee des Hofes der
Direktoren oder wer sonst. Jeder versicherte, er sei unschuldig; doch um ein
Ende zu machen, erklärte der Präsident des Anfsichtshofes, Lord Broughton,
er übernehme die Verantwortlichkeit. Man belobte seine antike Aufopferung,
bedauerte sein irriges Urteil, beschloß, um die Niederlage zu rächen, einen
zweiten Krieg und rechnete im Parlament den ersten zur alten Historie. Auch
die zahlreichen Privatquellen, welche dem Geschichtschreiber der afghanischen
Feldzüge Sir John Kaye zuflossen, brachten keinen Aufschluß. Aber im Jahre
1878 erschien eine Lebensbeschreibung Lord Melbournes, in der folgende Briefe
abgedruckt sind.

(Lord Melbourne an Spring-Rice, 29. Oktober 1838.) Auckland hat den Weg
eingeschlagen, den wir, als wir unsrer sieben in Windsor versammelt waren, ihm
zu empfehlen beschlossen, d. h. nicht Mac Neith (des Gesandten in Teheran) Rat
zu folgen, nicht von Buschir aus in Persien einzurücken, sondern entscheidende
Maßregeln in Afghanistan zu ergreifen. Es ist ein entscheidender Zug, der zu
wichtigen Ereignissen führen kann, aber, wie ich glaube, notwendig. Es handelt
sich um keine geringere Frage als die, wer Herr in Zentralasien sein soll!

(Lord Palmerston an Lord Melbourne, 31. Oktober 1838.) Hier sind die
indischen Depeschen. Auckland scheint die richtige Ansicht darüber zu haben, wie
wichtig es ist, Afghanistan zu einer britischen Dependenz zu machen, da der Auto¬
krat entschlossen ist, das Land nicht sich selbst zu überlassen. Wenn es uns gelingt,
die Afghanen unter unsre Protektion zu nehmen, und wenn nötig, in Herat eine
Besatzung zu halten, so werden wir unser Uebergewicht in Persien wieder gewinnen
und auch unsern Handelsvertrag mit dieser Macht durchsetzen.

Es werden nicht wieder fünfzig Jahre, aber es wird immerhin einige Zeit
darüber vergehen, bis das Schicksal Herats sich entscheidet, und inzwischen wird
Dulip Singh eine Figur auf dem Schachbrett der zentralasiatischen Politik sein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/619>, abgerufen am 17.09.2024.