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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Russische Skizzen.

vorhergehenden Tage vorbereitet hat, kalte Küche, Wein, Bier, Thee, Kaffee,
in einen großen Korb, der in Verbindung mit dem unschätzbaren Samowar,
der unentbehrlichen Heißwassermaschine, fast allein einen Wagen fiir sich be¬
ansprucht; auf die Sitze werden Kissen und Decken gebreitet. Ist alles unter
Lachen und Scherzen und mannichfachen kleinen Schwierigkeiten -- jedes Kind
will natürlich selbst "kutschiren" -- glücklich untergebracht, dann fährt der kleine
Zug ab, womöglich im Trabe, denn die kleinen, drolligen Gäule sind eifrig, und
keiner will dem andern nachstehen. So geht es hinein ins Land oder an der
hohen Küste hin, durch Sand und Wald, 20, 25, 30 Werst weit. Ist das
Ziel erreicht, dann schickt sich die Gesellschaft an, ein vertrauenerweckendes
Bauernhaus auszusuchen, den" ein Gasthof (Postojalny Door) ist fast nie vor¬
handen und würde auch nicht viel liefern, wenn er dawäre. Willig geben die Leute
einen Tisch, ein Paar Schemel und dergleichen her, bald summt der Samowar,
und große Töpfe des trefflichsten sauern Rahmes kommen herbei, fast das
einzige, was die bäuerliche Wirtschaft zu spenden vermag; eigentliche Bezahlung
wird für das alles nicht gefordert, aber die Annahme eines entsprechenden
Geldgeschenkes nicht verweigert. Derweilen sammelt sich draußen die holde
Dorfjugend, ebenso bunt gekleidet wie die Erwachsenen, hellblond, blauäugig,
rotbäckig, barfuß, von unendlicher Neugier erfüllt, aber nicht zudringlich;
schweigend und achtungsvoll stehen sie am Zaune und kommen nnr schlichtem
herbei, wenn ein freundliches Wort ihnen einen ungewohnten Genuß in Aus¬
sicht stellt. Für die müden Gäule sorgen die Bauern. Spät denkt man an
die Rückfahrt, und gewöhnlich treffen die Gesellschaft noch tief im Walde die
letzten Strahlen der sinkenden Sonne, wenn sie rotgold durch die hohen, dunkeln
Stämme stammen.

Ist der Himmel hell, das Wetter warm, dann erscheint alles in freund¬
lichem Lichte, auch das elendeste Strohdach, auch der dürftigste Kiefernwald,
um wieviel mehr die anmutigste Landschaft dieses ganzen Küstenstriches, die
Gegend von Kam Waldaj und Schepclewa, denn hier öffnet sich im Süden der
Blick auf einen großen, stillen, waldumschlnngenen Landsee, im Norden, am
Fuße des hohen Gestades, blitzt leise wogend das Meer in der Sonne, lautlos
ziehen die Schiffe ihre Bahn, gegenüber blaue die hohe finnische Küste, in allen
Einzelheiten zu unterscheiden: Wald, Sandstreifen, Häusergruppen. Anders
freilich ist der Eindruck da, wo die ingermannländische Küste flach verläuft,
Wald und Sumpf dicht ein die See treten; da legen die zerzausten Äste, das
zerrissene, ausgewaschene Wurzelwerk der Bäume längst des Strandes Zeugnis
ab von der Gewalt des Wintersturmes, der dann wohl auch die Fluten weit
ins Land hinein treibt. Den Eindruck ungastlicher Öde solcher Striche erhöhe!,
noch die zahllosen Gmuitblöcke, die weithin den Sand des Strandes bedecken
oder in langen Reihen zwischen Schilf und Riedgras in das flache Wasser sich
hinausziehen, oft mit schlüpfrigem Schlamm überzogen und jede Annäherung


Russische Skizzen.

vorhergehenden Tage vorbereitet hat, kalte Küche, Wein, Bier, Thee, Kaffee,
in einen großen Korb, der in Verbindung mit dem unschätzbaren Samowar,
der unentbehrlichen Heißwassermaschine, fast allein einen Wagen fiir sich be¬
ansprucht; auf die Sitze werden Kissen und Decken gebreitet. Ist alles unter
Lachen und Scherzen und mannichfachen kleinen Schwierigkeiten — jedes Kind
will natürlich selbst „kutschiren" — glücklich untergebracht, dann fährt der kleine
Zug ab, womöglich im Trabe, denn die kleinen, drolligen Gäule sind eifrig, und
keiner will dem andern nachstehen. So geht es hinein ins Land oder an der
hohen Küste hin, durch Sand und Wald, 20, 25, 30 Werst weit. Ist das
Ziel erreicht, dann schickt sich die Gesellschaft an, ein vertrauenerweckendes
Bauernhaus auszusuchen, den» ein Gasthof (Postojalny Door) ist fast nie vor¬
handen und würde auch nicht viel liefern, wenn er dawäre. Willig geben die Leute
einen Tisch, ein Paar Schemel und dergleichen her, bald summt der Samowar,
und große Töpfe des trefflichsten sauern Rahmes kommen herbei, fast das
einzige, was die bäuerliche Wirtschaft zu spenden vermag; eigentliche Bezahlung
wird für das alles nicht gefordert, aber die Annahme eines entsprechenden
Geldgeschenkes nicht verweigert. Derweilen sammelt sich draußen die holde
Dorfjugend, ebenso bunt gekleidet wie die Erwachsenen, hellblond, blauäugig,
rotbäckig, barfuß, von unendlicher Neugier erfüllt, aber nicht zudringlich;
schweigend und achtungsvoll stehen sie am Zaune und kommen nnr schlichtem
herbei, wenn ein freundliches Wort ihnen einen ungewohnten Genuß in Aus¬
sicht stellt. Für die müden Gäule sorgen die Bauern. Spät denkt man an
die Rückfahrt, und gewöhnlich treffen die Gesellschaft noch tief im Walde die
letzten Strahlen der sinkenden Sonne, wenn sie rotgold durch die hohen, dunkeln
Stämme stammen.

Ist der Himmel hell, das Wetter warm, dann erscheint alles in freund¬
lichem Lichte, auch das elendeste Strohdach, auch der dürftigste Kiefernwald,
um wieviel mehr die anmutigste Landschaft dieses ganzen Küstenstriches, die
Gegend von Kam Waldaj und Schepclewa, denn hier öffnet sich im Süden der
Blick auf einen großen, stillen, waldumschlnngenen Landsee, im Norden, am
Fuße des hohen Gestades, blitzt leise wogend das Meer in der Sonne, lautlos
ziehen die Schiffe ihre Bahn, gegenüber blaue die hohe finnische Küste, in allen
Einzelheiten zu unterscheiden: Wald, Sandstreifen, Häusergruppen. Anders
freilich ist der Eindruck da, wo die ingermannländische Küste flach verläuft,
Wald und Sumpf dicht ein die See treten; da legen die zerzausten Äste, das
zerrissene, ausgewaschene Wurzelwerk der Bäume längst des Strandes Zeugnis
ab von der Gewalt des Wintersturmes, der dann wohl auch die Fluten weit
ins Land hinein treibt. Den Eindruck ungastlicher Öde solcher Striche erhöhe!,
noch die zahllosen Gmuitblöcke, die weithin den Sand des Strandes bedecken
oder in langen Reihen zwischen Schilf und Riedgras in das flache Wasser sich
hinausziehen, oft mit schlüpfrigem Schlamm überzogen und jede Annäherung


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[0604] Russische Skizzen. vorhergehenden Tage vorbereitet hat, kalte Küche, Wein, Bier, Thee, Kaffee, in einen großen Korb, der in Verbindung mit dem unschätzbaren Samowar, der unentbehrlichen Heißwassermaschine, fast allein einen Wagen fiir sich be¬ ansprucht; auf die Sitze werden Kissen und Decken gebreitet. Ist alles unter Lachen und Scherzen und mannichfachen kleinen Schwierigkeiten — jedes Kind will natürlich selbst „kutschiren" — glücklich untergebracht, dann fährt der kleine Zug ab, womöglich im Trabe, denn die kleinen, drolligen Gäule sind eifrig, und keiner will dem andern nachstehen. So geht es hinein ins Land oder an der hohen Küste hin, durch Sand und Wald, 20, 25, 30 Werst weit. Ist das Ziel erreicht, dann schickt sich die Gesellschaft an, ein vertrauenerweckendes Bauernhaus auszusuchen, den» ein Gasthof (Postojalny Door) ist fast nie vor¬ handen und würde auch nicht viel liefern, wenn er dawäre. Willig geben die Leute einen Tisch, ein Paar Schemel und dergleichen her, bald summt der Samowar, und große Töpfe des trefflichsten sauern Rahmes kommen herbei, fast das einzige, was die bäuerliche Wirtschaft zu spenden vermag; eigentliche Bezahlung wird für das alles nicht gefordert, aber die Annahme eines entsprechenden Geldgeschenkes nicht verweigert. Derweilen sammelt sich draußen die holde Dorfjugend, ebenso bunt gekleidet wie die Erwachsenen, hellblond, blauäugig, rotbäckig, barfuß, von unendlicher Neugier erfüllt, aber nicht zudringlich; schweigend und achtungsvoll stehen sie am Zaune und kommen nnr schlichtem herbei, wenn ein freundliches Wort ihnen einen ungewohnten Genuß in Aus¬ sicht stellt. Für die müden Gäule sorgen die Bauern. Spät denkt man an die Rückfahrt, und gewöhnlich treffen die Gesellschaft noch tief im Walde die letzten Strahlen der sinkenden Sonne, wenn sie rotgold durch die hohen, dunkeln Stämme stammen. Ist der Himmel hell, das Wetter warm, dann erscheint alles in freund¬ lichem Lichte, auch das elendeste Strohdach, auch der dürftigste Kiefernwald, um wieviel mehr die anmutigste Landschaft dieses ganzen Küstenstriches, die Gegend von Kam Waldaj und Schepclewa, denn hier öffnet sich im Süden der Blick auf einen großen, stillen, waldumschlnngenen Landsee, im Norden, am Fuße des hohen Gestades, blitzt leise wogend das Meer in der Sonne, lautlos ziehen die Schiffe ihre Bahn, gegenüber blaue die hohe finnische Küste, in allen Einzelheiten zu unterscheiden: Wald, Sandstreifen, Häusergruppen. Anders freilich ist der Eindruck da, wo die ingermannländische Küste flach verläuft, Wald und Sumpf dicht ein die See treten; da legen die zerzausten Äste, das zerrissene, ausgewaschene Wurzelwerk der Bäume längst des Strandes Zeugnis ab von der Gewalt des Wintersturmes, der dann wohl auch die Fluten weit ins Land hinein treibt. Den Eindruck ungastlicher Öde solcher Striche erhöhe!, noch die zahllosen Gmuitblöcke, die weithin den Sand des Strandes bedecken oder in langen Reihen zwischen Schilf und Riedgras in das flache Wasser sich hinausziehen, oft mit schlüpfrigem Schlamm überzogen und jede Annäherung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/604>, abgerufen am 17.09.2024.