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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Russische Skizzen.

der am Eingange auf einer Tafel zu lesen ist, die Zahl nicht nur der Bauern¬
höfe, sondern auch der Bewohner hinzuzufügen, übrigens wohl mit Ausschluß
der Kinder, so z. B. Lebjaschje 11 Höfe, 22 männliche, 35 weibliche Seelen,
Ober-Krasncija Gorla 37 Höfe, 68 Seelen, Kara Waldaj 16 Höfe, 32 männ¬
liche, 56 weibliche Seelen, Schepelewa 18 Höfe, 45 männliche, 45 weibliche
Seelen.

Welchen Einfluß ans dieses ländliche Dasein Kirche und Schule üben, ist
schwer zu sagen. Seltsam berührte es, daß ein Bauer zwar Finnisch lesen
konnte und infolge dessen wohl imstande war, in einer deutschen Zeitung zu
buchstabiren -- denn das Finnische wird mit unsern Lettern gedruckt --, aber
nicht Russisch, obwohl er Russisch sprach. Keine günstige Vorstellung von dem
religiös sittlichen Einfluß der russischen Kirche erweckten iugermannländische
Dorffriedhöfe, das Ödeste, was man sehen kann: in der Mitte eine sogenannte
Kapelle, el" kleiner, viereckiger Holzbau mit spitzzulaufendcm Schindeldache,
dessen kirchliche Bestimmung nur das Doppelkreuz auf dem First verrät, das
finstere Innere nur durch eine Thür erleuchtet, im Hintergrunde ein schmuck¬
loser Altar, auf dem Heiligenbilder der verschiedensten Art und Größe stehen,
da ein solches bei jeder Beerdigung dargebracht werden muß. Die Gräber sind
kaum kenntlich, nur wenige von einem grell bemalten Holzgitter umgeben, die
meisten nnr mit rohen Feldsteinen bezeichnet und mit einem Holzkreuze in
russischer Form, doch ohne jede Inschrift. Häufig ist auch dies zerfallen oder
umgesunken; kein Kranz, keine Blume deutet an, daß jemals eine liebende Hand
die letzte Ruhestätte geschmückt hat. Deu Eindruck der Verlassenheit erhöht
zuweilen noch die entfernte Lage des Friedhofes, und doch mildert sie auch
wieder das unerfreuliche Bild, denn ans hohem, weitumschauendem Vorsprung
der Küste liegt der eine, ein anderer auf flachem Hügel unter hochstämmigen
Kiefern mit dem Blick auf die bewaldete Küste und das Meer, ein dritter dicht
an einem waldumkränzten Landsee. Was freilich den Sonntag betrifft, fo
scheint er in den von der Kirche entlegneren Orten zum Besuche derselben nicht
weiter benutzt zu werdeu. Vielmehr setzen sich da schon am Morgen die Männer
und Burschen in schönen roten Hemden und hohen Stiefeln zusammen, um zu
spielen; davon abgesondert bilden Frauen und Mädchen in bunter, farben¬
reicher Tracht fröhlich schwatzende Gruppen, oder eine Vorsängerin beginnt
ein finnisches Lied, das dann die andern im Chor nachsingen, oder sie bilden
einen Kreis, in dem sie paarweise tanzen, während die männliche Bevölkerung
zusieht. Kommt ein Fremder oder gar eine ganze Gesellschaft, dann blicken
sie neugierig auf die seltene" Erscheinungen; nirgends ist es noch leichter,
Eindruck zu machen, als bei dieser abgeschiedenen Bevölkerung. Und ein solcher
Sonntagsausflug aus der Sommerfrische in ein halbwildes Land hinein hat
seine Reize. Einige Teljegen werden gemietet -- 2 bis 2^ Rubel für das
Pferd --; die sorgliche Hausfrau packt den Mundvorrat, den sie schon am


Russische Skizzen.

der am Eingange auf einer Tafel zu lesen ist, die Zahl nicht nur der Bauern¬
höfe, sondern auch der Bewohner hinzuzufügen, übrigens wohl mit Ausschluß
der Kinder, so z. B. Lebjaschje 11 Höfe, 22 männliche, 35 weibliche Seelen,
Ober-Krasncija Gorla 37 Höfe, 68 Seelen, Kara Waldaj 16 Höfe, 32 männ¬
liche, 56 weibliche Seelen, Schepelewa 18 Höfe, 45 männliche, 45 weibliche
Seelen.

Welchen Einfluß ans dieses ländliche Dasein Kirche und Schule üben, ist
schwer zu sagen. Seltsam berührte es, daß ein Bauer zwar Finnisch lesen
konnte und infolge dessen wohl imstande war, in einer deutschen Zeitung zu
buchstabiren — denn das Finnische wird mit unsern Lettern gedruckt —, aber
nicht Russisch, obwohl er Russisch sprach. Keine günstige Vorstellung von dem
religiös sittlichen Einfluß der russischen Kirche erweckten iugermannländische
Dorffriedhöfe, das Ödeste, was man sehen kann: in der Mitte eine sogenannte
Kapelle, el» kleiner, viereckiger Holzbau mit spitzzulaufendcm Schindeldache,
dessen kirchliche Bestimmung nur das Doppelkreuz auf dem First verrät, das
finstere Innere nur durch eine Thür erleuchtet, im Hintergrunde ein schmuck¬
loser Altar, auf dem Heiligenbilder der verschiedensten Art und Größe stehen,
da ein solches bei jeder Beerdigung dargebracht werden muß. Die Gräber sind
kaum kenntlich, nur wenige von einem grell bemalten Holzgitter umgeben, die
meisten nnr mit rohen Feldsteinen bezeichnet und mit einem Holzkreuze in
russischer Form, doch ohne jede Inschrift. Häufig ist auch dies zerfallen oder
umgesunken; kein Kranz, keine Blume deutet an, daß jemals eine liebende Hand
die letzte Ruhestätte geschmückt hat. Deu Eindruck der Verlassenheit erhöht
zuweilen noch die entfernte Lage des Friedhofes, und doch mildert sie auch
wieder das unerfreuliche Bild, denn ans hohem, weitumschauendem Vorsprung
der Küste liegt der eine, ein anderer auf flachem Hügel unter hochstämmigen
Kiefern mit dem Blick auf die bewaldete Küste und das Meer, ein dritter dicht
an einem waldumkränzten Landsee. Was freilich den Sonntag betrifft, fo
scheint er in den von der Kirche entlegneren Orten zum Besuche derselben nicht
weiter benutzt zu werdeu. Vielmehr setzen sich da schon am Morgen die Männer
und Burschen in schönen roten Hemden und hohen Stiefeln zusammen, um zu
spielen; davon abgesondert bilden Frauen und Mädchen in bunter, farben¬
reicher Tracht fröhlich schwatzende Gruppen, oder eine Vorsängerin beginnt
ein finnisches Lied, das dann die andern im Chor nachsingen, oder sie bilden
einen Kreis, in dem sie paarweise tanzen, während die männliche Bevölkerung
zusieht. Kommt ein Fremder oder gar eine ganze Gesellschaft, dann blicken
sie neugierig auf die seltene» Erscheinungen; nirgends ist es noch leichter,
Eindruck zu machen, als bei dieser abgeschiedenen Bevölkerung. Und ein solcher
Sonntagsausflug aus der Sommerfrische in ein halbwildes Land hinein hat
seine Reize. Einige Teljegen werden gemietet — 2 bis 2^ Rubel für das
Pferd —; die sorgliche Hausfrau packt den Mundvorrat, den sie schon am


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[0603] Russische Skizzen. der am Eingange auf einer Tafel zu lesen ist, die Zahl nicht nur der Bauern¬ höfe, sondern auch der Bewohner hinzuzufügen, übrigens wohl mit Ausschluß der Kinder, so z. B. Lebjaschje 11 Höfe, 22 männliche, 35 weibliche Seelen, Ober-Krasncija Gorla 37 Höfe, 68 Seelen, Kara Waldaj 16 Höfe, 32 männ¬ liche, 56 weibliche Seelen, Schepelewa 18 Höfe, 45 männliche, 45 weibliche Seelen. Welchen Einfluß ans dieses ländliche Dasein Kirche und Schule üben, ist schwer zu sagen. Seltsam berührte es, daß ein Bauer zwar Finnisch lesen konnte und infolge dessen wohl imstande war, in einer deutschen Zeitung zu buchstabiren — denn das Finnische wird mit unsern Lettern gedruckt —, aber nicht Russisch, obwohl er Russisch sprach. Keine günstige Vorstellung von dem religiös sittlichen Einfluß der russischen Kirche erweckten iugermannländische Dorffriedhöfe, das Ödeste, was man sehen kann: in der Mitte eine sogenannte Kapelle, el» kleiner, viereckiger Holzbau mit spitzzulaufendcm Schindeldache, dessen kirchliche Bestimmung nur das Doppelkreuz auf dem First verrät, das finstere Innere nur durch eine Thür erleuchtet, im Hintergrunde ein schmuck¬ loser Altar, auf dem Heiligenbilder der verschiedensten Art und Größe stehen, da ein solches bei jeder Beerdigung dargebracht werden muß. Die Gräber sind kaum kenntlich, nur wenige von einem grell bemalten Holzgitter umgeben, die meisten nnr mit rohen Feldsteinen bezeichnet und mit einem Holzkreuze in russischer Form, doch ohne jede Inschrift. Häufig ist auch dies zerfallen oder umgesunken; kein Kranz, keine Blume deutet an, daß jemals eine liebende Hand die letzte Ruhestätte geschmückt hat. Deu Eindruck der Verlassenheit erhöht zuweilen noch die entfernte Lage des Friedhofes, und doch mildert sie auch wieder das unerfreuliche Bild, denn ans hohem, weitumschauendem Vorsprung der Küste liegt der eine, ein anderer auf flachem Hügel unter hochstämmigen Kiefern mit dem Blick auf die bewaldete Küste und das Meer, ein dritter dicht an einem waldumkränzten Landsee. Was freilich den Sonntag betrifft, fo scheint er in den von der Kirche entlegneren Orten zum Besuche derselben nicht weiter benutzt zu werdeu. Vielmehr setzen sich da schon am Morgen die Männer und Burschen in schönen roten Hemden und hohen Stiefeln zusammen, um zu spielen; davon abgesondert bilden Frauen und Mädchen in bunter, farben¬ reicher Tracht fröhlich schwatzende Gruppen, oder eine Vorsängerin beginnt ein finnisches Lied, das dann die andern im Chor nachsingen, oder sie bilden einen Kreis, in dem sie paarweise tanzen, während die männliche Bevölkerung zusieht. Kommt ein Fremder oder gar eine ganze Gesellschaft, dann blicken sie neugierig auf die seltene» Erscheinungen; nirgends ist es noch leichter, Eindruck zu machen, als bei dieser abgeschiedenen Bevölkerung. Und ein solcher Sonntagsausflug aus der Sommerfrische in ein halbwildes Land hinein hat seine Reize. Einige Teljegen werden gemietet — 2 bis 2^ Rubel für das Pferd —; die sorgliche Hausfrau packt den Mundvorrat, den sie schon am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/603>, abgerufen am 17.09.2024.