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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonutagsphilosophen.

Vielleicht weil die Farben für unsre Gewöhnung zu sehr nur andeutend gehalten
sind, wie wir es selbst als Kinder mit solchem Ausmalen gehalten haben. Das
sechzehnte Jahrhundert muß auch darin ein anders Kunstauge gehabt haben.

Denkt man sich aber in die Zeit zurück, wo sich alle zeichnende Kunst
noch mehr in der Andeutung bewegte, die wir noch beim Profil gelten lassen,
so muß man annehmen, daß alle, auch die Gebildeten, nicht nnr daran gewöhnt,
sondern förmlich darauf eingeübt waren, sich in die Umrisse das volle Leben
selber hinein zu sehen. Das zeigen auch Äußerungen, wie in der berühmten
Stelle der Nibelungen, wo Siegfried zum erstenmale mit der Kriemhild zu¬
sammen geführt wird und beide als glänzendste Gestalten erscheinen sollen und
für die Dichtung müssen. Wenn die Kriemhild zu dem Zweck im Unterschied
von ihrem Frauengefolge dem Monde verglichen wird, wie er die Sterne über¬
leuchtet, was ja auch uns noch ganz wirksam ist (obwohl es auch dem Hörer
zum Ausmalen genug übrig läßt), so heißt es von Siegfried, der dabei noch
dazu von tiefster Bewegung ergriffen gezeichnet ist, bloß so:


VS gtuont so winnoeUotw 6al5 LiZIWäs Kot,
S!>M 01' ontvsM'toll iM om porminti
von Kuotos woiswi-8 listöQ (Kunst) u. s. w. Uib. 28S Landin.

Wir haben ja solcher Bilder, wie sie da gemeint sein müssen, genug übrig
in pergamentner Handschriften, z. B. in der Pariser oder sogenannten Ma¬
nessischen Liederhandschrift (nun auch leicht zugänglich in den guten Proben in
Könneckes Bilderatlas), können aber, was wir daran sehen, nicht überein bringen
mit der Wirkung, die der Dichter da brauchte und bei seinen Hörern gewiß
erzielte; denn sie wußten doch sicher ganz genau oder hatten es deutlich genug
im Auge, wie ein Held in glänzendster Manneserschcinung aussah, und sahen
die eben in jener Federzeichnung mit einfachster Färbung. Es erklärt sich aus
dem Unterschiede des Kunstsehens von damals und heute.

Als aber die Kunst von jenem Andenken fortschritt zur lebenswahren
Ausführung, wie in unsrer Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert
geschah, da muß sich ein wahrer Umschwung vollzogen haben in der Gewohn¬
heit des Sehens; das Auge, das auf die alte Kunst eingeübt war, mußte
stutzig werden vor den Bildern, und wer, wie vielleicht jener Graf zum ersten¬
male vor ein Bild trat mit der lebensvollen Formen- und Farbengebung, wie
sie Cranachs Bilder boten, bei dem mußte wohl der Umschwung zu einem
ordentlichen Umsturz werden.

Eine so gemalte wilde Ente an der Wand: er brachte ja, gewiß ein er¬
fahrener Jäger, wie alle Fürsten damals, den Strichen und Farben das Lebens¬
bild der Ente in sich entgegen, nach langer, ungestörter Gewöhnung -- und
stieß auf einmal auf ein Entenbild außen, so lebensvoll, wie mans bisher nur
von der Ente selber kannte: traf nicht da gleichsam eine doppelte Ente im


Tagebuchblätter eines Sonutagsphilosophen.

Vielleicht weil die Farben für unsre Gewöhnung zu sehr nur andeutend gehalten
sind, wie wir es selbst als Kinder mit solchem Ausmalen gehalten haben. Das
sechzehnte Jahrhundert muß auch darin ein anders Kunstauge gehabt haben.

Denkt man sich aber in die Zeit zurück, wo sich alle zeichnende Kunst
noch mehr in der Andeutung bewegte, die wir noch beim Profil gelten lassen,
so muß man annehmen, daß alle, auch die Gebildeten, nicht nnr daran gewöhnt,
sondern förmlich darauf eingeübt waren, sich in die Umrisse das volle Leben
selber hinein zu sehen. Das zeigen auch Äußerungen, wie in der berühmten
Stelle der Nibelungen, wo Siegfried zum erstenmale mit der Kriemhild zu¬
sammen geführt wird und beide als glänzendste Gestalten erscheinen sollen und
für die Dichtung müssen. Wenn die Kriemhild zu dem Zweck im Unterschied
von ihrem Frauengefolge dem Monde verglichen wird, wie er die Sterne über¬
leuchtet, was ja auch uns noch ganz wirksam ist (obwohl es auch dem Hörer
zum Ausmalen genug übrig läßt), so heißt es von Siegfried, der dabei noch
dazu von tiefster Bewegung ergriffen gezeichnet ist, bloß so:


VS gtuont so winnoeUotw 6al5 LiZIWäs Kot,
S!>M 01' ontvsM'toll iM om porminti
von Kuotos woiswi-8 listöQ (Kunst) u. s. w. Uib. 28S Landin.

Wir haben ja solcher Bilder, wie sie da gemeint sein müssen, genug übrig
in pergamentner Handschriften, z. B. in der Pariser oder sogenannten Ma¬
nessischen Liederhandschrift (nun auch leicht zugänglich in den guten Proben in
Könneckes Bilderatlas), können aber, was wir daran sehen, nicht überein bringen
mit der Wirkung, die der Dichter da brauchte und bei seinen Hörern gewiß
erzielte; denn sie wußten doch sicher ganz genau oder hatten es deutlich genug
im Auge, wie ein Held in glänzendster Manneserschcinung aussah, und sahen
die eben in jener Federzeichnung mit einfachster Färbung. Es erklärt sich aus
dem Unterschiede des Kunstsehens von damals und heute.

Als aber die Kunst von jenem Andenken fortschritt zur lebenswahren
Ausführung, wie in unsrer Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert
geschah, da muß sich ein wahrer Umschwung vollzogen haben in der Gewohn¬
heit des Sehens; das Auge, das auf die alte Kunst eingeübt war, mußte
stutzig werden vor den Bildern, und wer, wie vielleicht jener Graf zum ersten¬
male vor ein Bild trat mit der lebensvollen Formen- und Farbengebung, wie
sie Cranachs Bilder boten, bei dem mußte wohl der Umschwung zu einem
ordentlichen Umsturz werden.

Eine so gemalte wilde Ente an der Wand: er brachte ja, gewiß ein er¬
fahrener Jäger, wie alle Fürsten damals, den Strichen und Farben das Lebens¬
bild der Ente in sich entgegen, nach langer, ungestörter Gewöhnung — und
stieß auf einmal auf ein Entenbild außen, so lebensvoll, wie mans bisher nur
von der Ente selber kannte: traf nicht da gleichsam eine doppelte Ente im


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[0599] Tagebuchblätter eines Sonutagsphilosophen. Vielleicht weil die Farben für unsre Gewöhnung zu sehr nur andeutend gehalten sind, wie wir es selbst als Kinder mit solchem Ausmalen gehalten haben. Das sechzehnte Jahrhundert muß auch darin ein anders Kunstauge gehabt haben. Denkt man sich aber in die Zeit zurück, wo sich alle zeichnende Kunst noch mehr in der Andeutung bewegte, die wir noch beim Profil gelten lassen, so muß man annehmen, daß alle, auch die Gebildeten, nicht nnr daran gewöhnt, sondern förmlich darauf eingeübt waren, sich in die Umrisse das volle Leben selber hinein zu sehen. Das zeigen auch Äußerungen, wie in der berühmten Stelle der Nibelungen, wo Siegfried zum erstenmale mit der Kriemhild zu¬ sammen geführt wird und beide als glänzendste Gestalten erscheinen sollen und für die Dichtung müssen. Wenn die Kriemhild zu dem Zweck im Unterschied von ihrem Frauengefolge dem Monde verglichen wird, wie er die Sterne über¬ leuchtet, was ja auch uns noch ganz wirksam ist (obwohl es auch dem Hörer zum Ausmalen genug übrig läßt), so heißt es von Siegfried, der dabei noch dazu von tiefster Bewegung ergriffen gezeichnet ist, bloß so: VS gtuont so winnoeUotw 6al5 LiZIWäs Kot, S!>M 01' ontvsM'toll iM om porminti von Kuotos woiswi-8 listöQ (Kunst) u. s. w. Uib. 28S Landin. Wir haben ja solcher Bilder, wie sie da gemeint sein müssen, genug übrig in pergamentner Handschriften, z. B. in der Pariser oder sogenannten Ma¬ nessischen Liederhandschrift (nun auch leicht zugänglich in den guten Proben in Könneckes Bilderatlas), können aber, was wir daran sehen, nicht überein bringen mit der Wirkung, die der Dichter da brauchte und bei seinen Hörern gewiß erzielte; denn sie wußten doch sicher ganz genau oder hatten es deutlich genug im Auge, wie ein Held in glänzendster Manneserschcinung aussah, und sahen die eben in jener Federzeichnung mit einfachster Färbung. Es erklärt sich aus dem Unterschiede des Kunstsehens von damals und heute. Als aber die Kunst von jenem Andenken fortschritt zur lebenswahren Ausführung, wie in unsrer Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert geschah, da muß sich ein wahrer Umschwung vollzogen haben in der Gewohn¬ heit des Sehens; das Auge, das auf die alte Kunst eingeübt war, mußte stutzig werden vor den Bildern, und wer, wie vielleicht jener Graf zum ersten¬ male vor ein Bild trat mit der lebensvollen Formen- und Farbengebung, wie sie Cranachs Bilder boten, bei dem mußte wohl der Umschwung zu einem ordentlichen Umsturz werden. Eine so gemalte wilde Ente an der Wand: er brachte ja, gewiß ein er¬ fahrener Jäger, wie alle Fürsten damals, den Strichen und Farben das Lebens¬ bild der Ente in sich entgegen, nach langer, ungestörter Gewöhnung — und stieß auf einmal auf ein Entenbild außen, so lebensvoll, wie mans bisher nur von der Ente selber kannte: traf nicht da gleichsam eine doppelte Ente im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/599>, abgerufen am 17.09.2024.