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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Turnübung gleichkommt. Doch für Kunststraszeu ist die Teljega gar nicht be¬
stimmt; ihre verborgenen Tugenden kommen erst dann zur vollen Entwicklung,
wenn die Chaussee aufhört. Den" was kein zivilisirter Federwagen aushalten
könnte, das verträgt sie ohne üble Folgen. Und Chausseen sind überall nur
die großen Poststraszcn, niemals die Nebenwege, die mehr oder weniger der
gütigen Fürsorge der Mutter Natur überlassei, bleiben. Für uns hört die
Straße sieben Werst westlich von Oranienbaum auf, mit ihr verschwindet die
letzte Villa, jetzt sind wir wirklich auf dem Lande!

Unsre "Straße," ein bald breiter, bald schmaler Sandweg mit tief aus-
gefahrneu Geleisen, in denen selbst unsre flotte Schwedka mühsam vorwärts
kommt, führt uns durch eine nicht eben schöne, aber immerhin in ihrer halb¬
wilden Ursprünglichkeit -- so nahe, nur etwa sechsundvierzig Werst von der ge¬
waltigen Hauptstadt! -- keineswegs uninteressante Landschaft. Das Land bleibt
zunächst eine Strecke weit offen. Zur Linken erhebt sich hinter breiten Wiesen¬
flächen, auf denen zahlreiche Männer und Frauen soeben mit der Heuernte be¬
schäftigt sind, der hohe Küstenrand, auf dessen Abdachung in schmalen, laugen
Streifen sich die Felder herabziehen, oben zeigen sich die Häuser eines Dorfes,
weiterhin die Reste von Schanzen aus dem Krimkriege, zur Rechten öde Haide
und sandige Düne, am flachen Strande mächtige, abgeschliffene Blöcke finnischen
Granits, die einst in der Eiszeit von der jenseitigen Küste herübergeflößt worden
sind, auf ihnen wohl, wie in tiefsinnige Betrachtung versunken, ein paar lang¬
beinige Fischreiher, ein stummer und doch beredter Beweis für die Einsam¬
keit dieser Gegend, und nun weiter hinaus das blaue, blitzende Meer, und auf
ihm wie schwimmend zwischen Himmel und Wasser die Weißen Häuser, die Forts,
der Mcisteuwald von Kronstäbe. Unser Rosselenker hält diese Stelle für ge¬
eignet, um seinem Gaule eine Erfrischung zu gestatten; ohne sich weiter um
seine Fahrgäste zu bekümmern, fährt er gleichmütig den flachen Strand hinunter
ins Wasser und läßt die Schwedka nach Belieben trinken; zahlreiche Geleise
zeigen, daß diese primitive Raststelle auch sonst benutzt wird. Weiterhin tritt
der Uferrand zurück, auf breiter Rasenfläche weiden einsam Pferde und Rinder,
und zahllose Geleise laufen nebeneinander wie in der Steppe; dahinter ragt
auf der Höhe über grauen Holzdächern der grüne Turm einer Kirche, der
einzige auf viele Meilen in der Runde, und merkwürdigerweise zeigt dorthin
auch ein Wegweiser, freilich mit halbverwaschener Inschrift, eine große Selten¬
heit, beinahe wie die Kirche, denn niemand braucht hier einen, weil ein Fremder
kaum herkommt. Dann geht es hinein in unabsehbaren Wald, Kiefern und
Fichten durcheinander. Es ist ganz einsam hier. Höchstens ein Pilzesucher
schaut überrascht auf, wenn er das Schnaufen unsers Gaules hört, oder ein
Bauernwagen trottet langsam seines Weges. So geht es lange fort; endlich,
zwanzig Werst von Oranienbaum, zeigt sich plötzlich ein weitläufiges Gehöft
zivilisirten Ansehens; ja wir bemerken sogar städtisch gekleidete Menschen, kein


Grmzlwten II, 1387. 68

Turnübung gleichkommt. Doch für Kunststraszeu ist die Teljega gar nicht be¬
stimmt; ihre verborgenen Tugenden kommen erst dann zur vollen Entwicklung,
wenn die Chaussee aufhört. Den» was kein zivilisirter Federwagen aushalten
könnte, das verträgt sie ohne üble Folgen. Und Chausseen sind überall nur
die großen Poststraszcn, niemals die Nebenwege, die mehr oder weniger der
gütigen Fürsorge der Mutter Natur überlassei, bleiben. Für uns hört die
Straße sieben Werst westlich von Oranienbaum auf, mit ihr verschwindet die
letzte Villa, jetzt sind wir wirklich auf dem Lande!

Unsre „Straße," ein bald breiter, bald schmaler Sandweg mit tief aus-
gefahrneu Geleisen, in denen selbst unsre flotte Schwedka mühsam vorwärts
kommt, führt uns durch eine nicht eben schöne, aber immerhin in ihrer halb¬
wilden Ursprünglichkeit — so nahe, nur etwa sechsundvierzig Werst von der ge¬
waltigen Hauptstadt! — keineswegs uninteressante Landschaft. Das Land bleibt
zunächst eine Strecke weit offen. Zur Linken erhebt sich hinter breiten Wiesen¬
flächen, auf denen zahlreiche Männer und Frauen soeben mit der Heuernte be¬
schäftigt sind, der hohe Küstenrand, auf dessen Abdachung in schmalen, laugen
Streifen sich die Felder herabziehen, oben zeigen sich die Häuser eines Dorfes,
weiterhin die Reste von Schanzen aus dem Krimkriege, zur Rechten öde Haide
und sandige Düne, am flachen Strande mächtige, abgeschliffene Blöcke finnischen
Granits, die einst in der Eiszeit von der jenseitigen Küste herübergeflößt worden
sind, auf ihnen wohl, wie in tiefsinnige Betrachtung versunken, ein paar lang¬
beinige Fischreiher, ein stummer und doch beredter Beweis für die Einsam¬
keit dieser Gegend, und nun weiter hinaus das blaue, blitzende Meer, und auf
ihm wie schwimmend zwischen Himmel und Wasser die Weißen Häuser, die Forts,
der Mcisteuwald von Kronstäbe. Unser Rosselenker hält diese Stelle für ge¬
eignet, um seinem Gaule eine Erfrischung zu gestatten; ohne sich weiter um
seine Fahrgäste zu bekümmern, fährt er gleichmütig den flachen Strand hinunter
ins Wasser und läßt die Schwedka nach Belieben trinken; zahlreiche Geleise
zeigen, daß diese primitive Raststelle auch sonst benutzt wird. Weiterhin tritt
der Uferrand zurück, auf breiter Rasenfläche weiden einsam Pferde und Rinder,
und zahllose Geleise laufen nebeneinander wie in der Steppe; dahinter ragt
auf der Höhe über grauen Holzdächern der grüne Turm einer Kirche, der
einzige auf viele Meilen in der Runde, und merkwürdigerweise zeigt dorthin
auch ein Wegweiser, freilich mit halbverwaschener Inschrift, eine große Selten¬
heit, beinahe wie die Kirche, denn niemand braucht hier einen, weil ein Fremder
kaum herkommt. Dann geht es hinein in unabsehbaren Wald, Kiefern und
Fichten durcheinander. Es ist ganz einsam hier. Höchstens ein Pilzesucher
schaut überrascht auf, wenn er das Schnaufen unsers Gaules hört, oder ein
Bauernwagen trottet langsam seines Weges. So geht es lange fort; endlich,
zwanzig Werst von Oranienbaum, zeigt sich plötzlich ein weitläufiges Gehöft
zivilisirten Ansehens; ja wir bemerken sogar städtisch gekleidete Menschen, kein


Grmzlwten II, 1387. 68
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/545>, abgerufen am 17.09.2024.