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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Das neue Ministerium in Paris.

Tagesordnung mit 384 gegen 156 Stimmen angenommen, und damit war der
erste Ansturm gegen den neuen Minister abgeschlagen. Unter den 28S Abge¬
ordneten, welche gegen die motivirte Tagesordnung und das in ihr liegende
Mißtrauensvotum stimmten, sollen sich 130 Mitglieder der verschiednen mo¬
narchistischen Gruppen befunden haben, und so hatten 155 Republikaner für
das Ministerium Partei genommen, und da für das Mißtrauensvotum nur
139 Republikaner von der radikalen Fraktion und der äußersten Linken stimmten,
so rechnete sich das Kabinet eine republikanische Mehrheit von 16 Stimmen
zu seinen Gunsten heraus, womit es bis auf weiteres zufrieden sein kann.

Auch Frankreich und in letzter und oberster Reihe die ganze europäische
Welt kann diesen Ausgang der Krisis mit Genugthuung betrachten und weitere
gute Folgen von der Aufraffung des Präsidenten und der Opportunistenpartei
zu erfolgreichem Widerstande gegen die Radikalen hoffen. Die Sparsamkeits¬
theorien, welche von diesen gegen Goblet ins Feld geführt wurden, waren nur
die spanische Wand, hinter welcher sich die Ziele der verschiednen Parteien der
Öffentlichkeit entzogen. Goblet wurde angegriffen und schließlich beseitigt, damit
für die Opportunisten oder die Radikalen Raum am Staatsruder würde. Lauge
schwankte die Wage zwischen beiden. Zuerst vereitelten die Radikalen das Zu¬
standekommen eines Ministeriums Freycinet, dann mußte der radikale Floquet
sich überzeugen, daß er dem Widerstande der Opportunisten gegen ein Kabinet
unter seiner Leitung nicht gewachsen sei. Einige Tage schien es, als sei nur
Clemenceau übrig, und dies rüttelte den Präsidenten aus seiner Beschaulichkeit
auf. Der Jenseitige, der politische Olympier fand es geraten, seine Reserve
aufzugeben und energisch Stellung zu nehmen zu dem aussichtslos scheinenden
Kampfe der beiden Parteien. Es ging durchaus nicht mehr mit dem Systeme
des Gehenlassens, es war patriotische Pflicht, einzugreifen, und die Pflicht¬
erfüllung war schließlich nicht ohne Erfolg, zumal da sie von andrer Seite
unterstützt wurde, von der Entschlossenheit und Standhaftigkeit, mit welcher die
Opportunisten bestrebt waren, endlich die radikale Führung von sich abzu¬
schütteln. Diese Mittelpartei in der französischen Kammer ist aber bisher stets
darauf bedacht gewesen, sich den Strömungen, die sich in dem, was man "Volk"
nennt, kundgaben und Geltung gewannen, möglichst anzubequemen, und das
wird vermutlich auch jetzt der Fall gewesen sein. Die Opportunisten sind keine
Helden und keine Leute die sich von bloßen Wallungen bewegen lassen, sondern
vorsichtige, kluge Beobachter und Rechner, die nicht leicht etwas wagen, ohne
vorher das Fahrwasser sondirt zu haben. Daß sie jetzt energisch vorgegangen
sind, wird wohl darauf zurückgeführt werden dürfen, daß sie bemerkt haben, wie
die öffentliche Meinung auch in den republikanischen Kreisen in langsamem
Umschlagen zu nüchterner Auffassung der Dinge und zu der ihr entsprechenden
Mäßigung ihrer Ansprüche und Bestrebungen im Innern und nach außen hin
begriffen ist.




Das neue Ministerium in Paris.

Tagesordnung mit 384 gegen 156 Stimmen angenommen, und damit war der
erste Ansturm gegen den neuen Minister abgeschlagen. Unter den 28S Abge¬
ordneten, welche gegen die motivirte Tagesordnung und das in ihr liegende
Mißtrauensvotum stimmten, sollen sich 130 Mitglieder der verschiednen mo¬
narchistischen Gruppen befunden haben, und so hatten 155 Republikaner für
das Ministerium Partei genommen, und da für das Mißtrauensvotum nur
139 Republikaner von der radikalen Fraktion und der äußersten Linken stimmten,
so rechnete sich das Kabinet eine republikanische Mehrheit von 16 Stimmen
zu seinen Gunsten heraus, womit es bis auf weiteres zufrieden sein kann.

Auch Frankreich und in letzter und oberster Reihe die ganze europäische
Welt kann diesen Ausgang der Krisis mit Genugthuung betrachten und weitere
gute Folgen von der Aufraffung des Präsidenten und der Opportunistenpartei
zu erfolgreichem Widerstande gegen die Radikalen hoffen. Die Sparsamkeits¬
theorien, welche von diesen gegen Goblet ins Feld geführt wurden, waren nur
die spanische Wand, hinter welcher sich die Ziele der verschiednen Parteien der
Öffentlichkeit entzogen. Goblet wurde angegriffen und schließlich beseitigt, damit
für die Opportunisten oder die Radikalen Raum am Staatsruder würde. Lauge
schwankte die Wage zwischen beiden. Zuerst vereitelten die Radikalen das Zu¬
standekommen eines Ministeriums Freycinet, dann mußte der radikale Floquet
sich überzeugen, daß er dem Widerstande der Opportunisten gegen ein Kabinet
unter seiner Leitung nicht gewachsen sei. Einige Tage schien es, als sei nur
Clemenceau übrig, und dies rüttelte den Präsidenten aus seiner Beschaulichkeit
auf. Der Jenseitige, der politische Olympier fand es geraten, seine Reserve
aufzugeben und energisch Stellung zu nehmen zu dem aussichtslos scheinenden
Kampfe der beiden Parteien. Es ging durchaus nicht mehr mit dem Systeme
des Gehenlassens, es war patriotische Pflicht, einzugreifen, und die Pflicht¬
erfüllung war schließlich nicht ohne Erfolg, zumal da sie von andrer Seite
unterstützt wurde, von der Entschlossenheit und Standhaftigkeit, mit welcher die
Opportunisten bestrebt waren, endlich die radikale Führung von sich abzu¬
schütteln. Diese Mittelpartei in der französischen Kammer ist aber bisher stets
darauf bedacht gewesen, sich den Strömungen, die sich in dem, was man „Volk"
nennt, kundgaben und Geltung gewannen, möglichst anzubequemen, und das
wird vermutlich auch jetzt der Fall gewesen sein. Die Opportunisten sind keine
Helden und keine Leute die sich von bloßen Wallungen bewegen lassen, sondern
vorsichtige, kluge Beobachter und Rechner, die nicht leicht etwas wagen, ohne
vorher das Fahrwasser sondirt zu haben. Daß sie jetzt energisch vorgegangen
sind, wird wohl darauf zurückgeführt werden dürfen, daß sie bemerkt haben, wie
die öffentliche Meinung auch in den republikanischen Kreisen in langsamem
Umschlagen zu nüchterner Auffassung der Dinge und zu der ihr entsprechenden
Mäßigung ihrer Ansprüche und Bestrebungen im Innern und nach außen hin
begriffen ist.




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[0542] Das neue Ministerium in Paris. Tagesordnung mit 384 gegen 156 Stimmen angenommen, und damit war der erste Ansturm gegen den neuen Minister abgeschlagen. Unter den 28S Abge¬ ordneten, welche gegen die motivirte Tagesordnung und das in ihr liegende Mißtrauensvotum stimmten, sollen sich 130 Mitglieder der verschiednen mo¬ narchistischen Gruppen befunden haben, und so hatten 155 Republikaner für das Ministerium Partei genommen, und da für das Mißtrauensvotum nur 139 Republikaner von der radikalen Fraktion und der äußersten Linken stimmten, so rechnete sich das Kabinet eine republikanische Mehrheit von 16 Stimmen zu seinen Gunsten heraus, womit es bis auf weiteres zufrieden sein kann. Auch Frankreich und in letzter und oberster Reihe die ganze europäische Welt kann diesen Ausgang der Krisis mit Genugthuung betrachten und weitere gute Folgen von der Aufraffung des Präsidenten und der Opportunistenpartei zu erfolgreichem Widerstande gegen die Radikalen hoffen. Die Sparsamkeits¬ theorien, welche von diesen gegen Goblet ins Feld geführt wurden, waren nur die spanische Wand, hinter welcher sich die Ziele der verschiednen Parteien der Öffentlichkeit entzogen. Goblet wurde angegriffen und schließlich beseitigt, damit für die Opportunisten oder die Radikalen Raum am Staatsruder würde. Lauge schwankte die Wage zwischen beiden. Zuerst vereitelten die Radikalen das Zu¬ standekommen eines Ministeriums Freycinet, dann mußte der radikale Floquet sich überzeugen, daß er dem Widerstande der Opportunisten gegen ein Kabinet unter seiner Leitung nicht gewachsen sei. Einige Tage schien es, als sei nur Clemenceau übrig, und dies rüttelte den Präsidenten aus seiner Beschaulichkeit auf. Der Jenseitige, der politische Olympier fand es geraten, seine Reserve aufzugeben und energisch Stellung zu nehmen zu dem aussichtslos scheinenden Kampfe der beiden Parteien. Es ging durchaus nicht mehr mit dem Systeme des Gehenlassens, es war patriotische Pflicht, einzugreifen, und die Pflicht¬ erfüllung war schließlich nicht ohne Erfolg, zumal da sie von andrer Seite unterstützt wurde, von der Entschlossenheit und Standhaftigkeit, mit welcher die Opportunisten bestrebt waren, endlich die radikale Führung von sich abzu¬ schütteln. Diese Mittelpartei in der französischen Kammer ist aber bisher stets darauf bedacht gewesen, sich den Strömungen, die sich in dem, was man „Volk" nennt, kundgaben und Geltung gewannen, möglichst anzubequemen, und das wird vermutlich auch jetzt der Fall gewesen sein. Die Opportunisten sind keine Helden und keine Leute die sich von bloßen Wallungen bewegen lassen, sondern vorsichtige, kluge Beobachter und Rechner, die nicht leicht etwas wagen, ohne vorher das Fahrwasser sondirt zu haben. Daß sie jetzt energisch vorgegangen sind, wird wohl darauf zurückgeführt werden dürfen, daß sie bemerkt haben, wie die öffentliche Meinung auch in den republikanischen Kreisen in langsamem Umschlagen zu nüchterner Auffassung der Dinge und zu der ihr entsprechenden Mäßigung ihrer Ansprüche und Bestrebungen im Innern und nach außen hin begriffen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/542>, abgerufen am 17.09.2024.