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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Lin neuer Phantasus.

Tiecks "Der blonde Elbert," "Der getreue Eckart," "Der Runeubcrg" und "Der
Pokal" erschien 1812, in demselben Sommer, wo sich die Heere des gesamten
Abendlandes unter der Führung des französischen Imperators gegen Nußland
wälzten und die kriegerische Weltgeschichte selbst in den stillen Erdenwinkel
drang, in welchem der romantische Dichter vor der Unbill des Tages Zuflucht
gesucht hatte, Tieck lebte damals mit Weib und Kind auf dem Gute Ziebingen
bei Frankfurt an der Oder -- er hatte nach langer Krankheit und gänzlicher
Unfähigkeit zum Schaffen sich im Jahre 1811 zu neuem Mut und neuen Vor¬
sätzen aufgerafft, die verbindende Erzählung zum "Phantasus" sollte ihm die
Möglichkeit geben, seine ältern und die neuen Schöpfungen, die eben jetzt ent¬
standen, zwanglos zu verknüpfen. Kaum war der erste Band des "Phantasus"
erschienen, so brach das große Kriegsuuwetter aufs neue los, das erst nach
vollen zwei Jahren austoben sollte, und der "Phantasus" konnte mit dem dritten
Bande erst 1817 abgeschlossen werden. Der "Phantasus" gehörte zu den Büchern,
die nur langsam eine gewisse Verbreitung in besonders gebildeten Kreisen ge¬
wannen, doch erweisen die spätern Auflagen, daß er, wenn auch spärlich, doch
Leser und Bewunderer hatte. Heute freilich möchte man wohl die Frage auf¬
werfen, wie viele der lebenden Deutschen das Buch Tiecks je in den Händen
gehabt, geschweige deun gelesen haben.

Diese literarhistorische Erinnerung ist uns unwillkürlich bei einem liebens¬
würdigen Buche gekommen, welches in unmittelbarer Anknüpfung an Tieck unter
dem Titel Neuer Phantasus*) vor kurzem erschienen ist. Ganz wie der alte,
bietet der "Neue Phantasus" innerhalb einer Rahmenerzählung eine Reihe von
Novellen und einige Märchendramen in kurzen und kecken Reimen, die Rahmen¬
erzählung schließt mit einer durch die vorgeführten Zwischenepisvden gut vor¬
bereiteten und allerseits befriedigenden Verlobung, das Ganze aber enthält eine
solche Fülle von frischer Dnrstellungskraft, gesundem Geist und seiner Selbst¬
ironie, daß der Verfasser nicht nötig gehabt hätte, sich hinter dem Wall der
Pseudonymitüt (Utis, d. i. Niemand) zu bergen:


Niemand nennt sich ein Held, zu entgehn der Cyklopen Verfolgung:
Niemand bin ich, und gern bleib' ichs für Tadel und Lob.

Wer immer der Verfasser sei, er wird sich den Dank von zahlreichen Lesern
verdienen, die ein lebendiges, in keiner Weise mit der Fabrikwaare des gewandten
Schriftstellertums vergleichbares Buch noch zu würdigen wissen, auch wenn es
"icht dem unmittelbarsten Bedürfnis des Augenblicks entspricht und acht in die
letzten Tiefen der Menschennatur hinabreicht. in die nur der gestaitungskraft.ge
und auserwählte Dichter blickt. Zu den "Berufenen" gehört Utis doch. Und
damit ihm ans dem Vergleich mit Tiecks ..Phantasus" kein Schaden erwachse,
mag gleich von vornherein betont sein, daß man wohl spürt, wie diese Erzah-



NeuerPhantasus. Von Utis. Zwei Bände. Leipzig. Georg Böhme, 1L87.
Lin neuer Phantasus.

Tiecks „Der blonde Elbert," „Der getreue Eckart," „Der Runeubcrg" und „Der
Pokal" erschien 1812, in demselben Sommer, wo sich die Heere des gesamten
Abendlandes unter der Führung des französischen Imperators gegen Nußland
wälzten und die kriegerische Weltgeschichte selbst in den stillen Erdenwinkel
drang, in welchem der romantische Dichter vor der Unbill des Tages Zuflucht
gesucht hatte, Tieck lebte damals mit Weib und Kind auf dem Gute Ziebingen
bei Frankfurt an der Oder — er hatte nach langer Krankheit und gänzlicher
Unfähigkeit zum Schaffen sich im Jahre 1811 zu neuem Mut und neuen Vor¬
sätzen aufgerafft, die verbindende Erzählung zum „Phantasus" sollte ihm die
Möglichkeit geben, seine ältern und die neuen Schöpfungen, die eben jetzt ent¬
standen, zwanglos zu verknüpfen. Kaum war der erste Band des „Phantasus"
erschienen, so brach das große Kriegsuuwetter aufs neue los, das erst nach
vollen zwei Jahren austoben sollte, und der „Phantasus" konnte mit dem dritten
Bande erst 1817 abgeschlossen werden. Der „Phantasus" gehörte zu den Büchern,
die nur langsam eine gewisse Verbreitung in besonders gebildeten Kreisen ge¬
wannen, doch erweisen die spätern Auflagen, daß er, wenn auch spärlich, doch
Leser und Bewunderer hatte. Heute freilich möchte man wohl die Frage auf¬
werfen, wie viele der lebenden Deutschen das Buch Tiecks je in den Händen
gehabt, geschweige deun gelesen haben.

Diese literarhistorische Erinnerung ist uns unwillkürlich bei einem liebens¬
würdigen Buche gekommen, welches in unmittelbarer Anknüpfung an Tieck unter
dem Titel Neuer Phantasus*) vor kurzem erschienen ist. Ganz wie der alte,
bietet der „Neue Phantasus" innerhalb einer Rahmenerzählung eine Reihe von
Novellen und einige Märchendramen in kurzen und kecken Reimen, die Rahmen¬
erzählung schließt mit einer durch die vorgeführten Zwischenepisvden gut vor¬
bereiteten und allerseits befriedigenden Verlobung, das Ganze aber enthält eine
solche Fülle von frischer Dnrstellungskraft, gesundem Geist und seiner Selbst¬
ironie, daß der Verfasser nicht nötig gehabt hätte, sich hinter dem Wall der
Pseudonymitüt (Utis, d. i. Niemand) zu bergen:


Niemand nennt sich ein Held, zu entgehn der Cyklopen Verfolgung:
Niemand bin ich, und gern bleib' ichs für Tadel und Lob.

Wer immer der Verfasser sei, er wird sich den Dank von zahlreichen Lesern
verdienen, die ein lebendiges, in keiner Weise mit der Fabrikwaare des gewandten
Schriftstellertums vergleichbares Buch noch zu würdigen wissen, auch wenn es
"icht dem unmittelbarsten Bedürfnis des Augenblicks entspricht und acht in die
letzten Tiefen der Menschennatur hinabreicht. in die nur der gestaitungskraft.ge
und auserwählte Dichter blickt. Zu den „Berufenen" gehört Utis doch. Und
damit ihm ans dem Vergleich mit Tiecks ..Phantasus» kein Schaden erwachse,
mag gleich von vornherein betont sein, daß man wohl spürt, wie diese Erzah-



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[0531] Lin neuer Phantasus. Tiecks „Der blonde Elbert," „Der getreue Eckart," „Der Runeubcrg" und „Der Pokal" erschien 1812, in demselben Sommer, wo sich die Heere des gesamten Abendlandes unter der Führung des französischen Imperators gegen Nußland wälzten und die kriegerische Weltgeschichte selbst in den stillen Erdenwinkel drang, in welchem der romantische Dichter vor der Unbill des Tages Zuflucht gesucht hatte, Tieck lebte damals mit Weib und Kind auf dem Gute Ziebingen bei Frankfurt an der Oder — er hatte nach langer Krankheit und gänzlicher Unfähigkeit zum Schaffen sich im Jahre 1811 zu neuem Mut und neuen Vor¬ sätzen aufgerafft, die verbindende Erzählung zum „Phantasus" sollte ihm die Möglichkeit geben, seine ältern und die neuen Schöpfungen, die eben jetzt ent¬ standen, zwanglos zu verknüpfen. Kaum war der erste Band des „Phantasus" erschienen, so brach das große Kriegsuuwetter aufs neue los, das erst nach vollen zwei Jahren austoben sollte, und der „Phantasus" konnte mit dem dritten Bande erst 1817 abgeschlossen werden. Der „Phantasus" gehörte zu den Büchern, die nur langsam eine gewisse Verbreitung in besonders gebildeten Kreisen ge¬ wannen, doch erweisen die spätern Auflagen, daß er, wenn auch spärlich, doch Leser und Bewunderer hatte. Heute freilich möchte man wohl die Frage auf¬ werfen, wie viele der lebenden Deutschen das Buch Tiecks je in den Händen gehabt, geschweige deun gelesen haben. Diese literarhistorische Erinnerung ist uns unwillkürlich bei einem liebens¬ würdigen Buche gekommen, welches in unmittelbarer Anknüpfung an Tieck unter dem Titel Neuer Phantasus*) vor kurzem erschienen ist. Ganz wie der alte, bietet der „Neue Phantasus" innerhalb einer Rahmenerzählung eine Reihe von Novellen und einige Märchendramen in kurzen und kecken Reimen, die Rahmen¬ erzählung schließt mit einer durch die vorgeführten Zwischenepisvden gut vor¬ bereiteten und allerseits befriedigenden Verlobung, das Ganze aber enthält eine solche Fülle von frischer Dnrstellungskraft, gesundem Geist und seiner Selbst¬ ironie, daß der Verfasser nicht nötig gehabt hätte, sich hinter dem Wall der Pseudonymitüt (Utis, d. i. Niemand) zu bergen: Niemand nennt sich ein Held, zu entgehn der Cyklopen Verfolgung: Niemand bin ich, und gern bleib' ichs für Tadel und Lob. Wer immer der Verfasser sei, er wird sich den Dank von zahlreichen Lesern verdienen, die ein lebendiges, in keiner Weise mit der Fabrikwaare des gewandten Schriftstellertums vergleichbares Buch noch zu würdigen wissen, auch wenn es "icht dem unmittelbarsten Bedürfnis des Augenblicks entspricht und acht in die letzten Tiefen der Menschennatur hinabreicht. in die nur der gestaitungskraft.ge und auserwählte Dichter blickt. Zu den „Berufenen" gehört Utis doch. Und damit ihm ans dem Vergleich mit Tiecks ..Phantasus» kein Schaden erwachse, mag gleich von vornherein betont sein, daß man wohl spürt, wie diese Erzah- NeuerPhantasus. Von Utis. Zwei Bände. Leipzig. Georg Böhme, 1L87.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/531>, abgerufen am 17.09.2024.