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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

mit kleinen Geschenken sowohl zu Weihnachten wie an unsern Geburtstagen.
Seltener kam die Tante zu uns, da sie kurzatmig und sehr beleibt war und
der einzige betretene Weg von ihrem Wohnorte zu uns über den Scheibebcrg
führte, dessen Ersteigung ihr schwer fiel. Nach ihrem frühen Tode stand der
Vater fast allein, da Onkel Traugott nur äußerst selten etwas von sich hören
ließ. Diese Trennung von aller Blutsverwandtschaft erweckte manchmal ein
Gefühl der Unbehaglichkeit in ihm, wenn er sich von dem großen Schwärme
der Verwandten der Mutter umringt sah, mit dem er übrigens ganz einträchtig
lebte. Man konnte es ihm deshalb nicht verdenken, wenn er in die Vergangenheit
zurückgriff und die Reihe der damals lebenden Vettern durchmusterte. Einige
derselben hatten ebenso wie der eigne Bruder schon in frühen Jahren ihrer Vater¬
stadt Valet gesagt, um anderwärtig ihr Glück zu versuchen, was auch dem
eine" und ander" zum Guten ausgrschlagen war. Überhaupt schien den Ver¬
wandten des Vaters ein gewisser Wandertrieb innezuwohnen, während die Sippe
mütterlicherseits das Verbleiben in der Heimat jedem unsichern Schritte in die
Ferne vorzog.

In frühern Jahren hatte die Familie Wunderlich in Zittau eine gewisse
Berühmtheit erlangt dnrch auffallendes Glück und durch Originalität ihres
Oberhauptes, eines wohlhabenden Kaufherren, welcher durch Vermittelung von
Hamburger Häusern auch mit überseeischen Plätzen in reger Handelsverbindung
stand. Von diesem originellen alten Herrn, der sich die seltsame Redensart,
die er jedem Gespräche einflocht, "Herr, ich muß ihr sagen," angewöhnt batie,
erzählte man sich eine Menge anekdotenhafter Geschichten, die wohl absichtlich
etwas ausgeschmückt worden waren. So sollte sich z. B. sein Reichtum von
einem unerwarteten Gewinn in der Lotterie herschreiben, indem ihm ein günstiger
Zufall das große Loos in den Schoß geworfen habe. Wem dieses seltene Glück
zu Teil ward, dem wurde dasselbe um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
im Kurstaat Sachsen auf ganz eigentümliche Weise kundgethan. Es erschienen
nämlich in dem Orte, wo der glückliche Gewinner sein Heimwesen hatte -- so
ward uns erzählt --, zwölf berittene Postillone in Gala, um unter Trompeten¬
schall das große Ereignis öffentlich zu verkündigen. Dem Kaufmann Wunderlich,
der keine Ahnung von seinem Glücke hatte, ward diese Ehre zu Teil, als er
eben mit seiner Familie und einigen Freunden bei Tische saß. Als man nun
von fern das Schmettern der Trompeten und das Pferdegetrapp hörte und alle
Tischgäste erstaunt den nicht zu erklärenden Tönen lauschten, erhob sich
Wunderlich und sagte trocken, aber voll Zuversicht: Herr, ich muß ihr sagen,
ich werde das große Loos gewonnen haben!

Ein andermal ward er infolge der Zahlungseinstellung eines Handlungs-
hauses genötigt, die in damaliger Zeit unerhörte Reise nach Hamburg zu machen,
um zu retten, was zu retten war. Dieser Entschluß des hochangesehenen
Mannes erregte allgemeine Bestürzung, denn in der ganzen Stadt lebte kein


Jugenderinnerungen.

mit kleinen Geschenken sowohl zu Weihnachten wie an unsern Geburtstagen.
Seltener kam die Tante zu uns, da sie kurzatmig und sehr beleibt war und
der einzige betretene Weg von ihrem Wohnorte zu uns über den Scheibebcrg
führte, dessen Ersteigung ihr schwer fiel. Nach ihrem frühen Tode stand der
Vater fast allein, da Onkel Traugott nur äußerst selten etwas von sich hören
ließ. Diese Trennung von aller Blutsverwandtschaft erweckte manchmal ein
Gefühl der Unbehaglichkeit in ihm, wenn er sich von dem großen Schwärme
der Verwandten der Mutter umringt sah, mit dem er übrigens ganz einträchtig
lebte. Man konnte es ihm deshalb nicht verdenken, wenn er in die Vergangenheit
zurückgriff und die Reihe der damals lebenden Vettern durchmusterte. Einige
derselben hatten ebenso wie der eigne Bruder schon in frühen Jahren ihrer Vater¬
stadt Valet gesagt, um anderwärtig ihr Glück zu versuchen, was auch dem
eine» und ander» zum Guten ausgrschlagen war. Überhaupt schien den Ver¬
wandten des Vaters ein gewisser Wandertrieb innezuwohnen, während die Sippe
mütterlicherseits das Verbleiben in der Heimat jedem unsichern Schritte in die
Ferne vorzog.

In frühern Jahren hatte die Familie Wunderlich in Zittau eine gewisse
Berühmtheit erlangt dnrch auffallendes Glück und durch Originalität ihres
Oberhauptes, eines wohlhabenden Kaufherren, welcher durch Vermittelung von
Hamburger Häusern auch mit überseeischen Plätzen in reger Handelsverbindung
stand. Von diesem originellen alten Herrn, der sich die seltsame Redensart,
die er jedem Gespräche einflocht, „Herr, ich muß ihr sagen," angewöhnt batie,
erzählte man sich eine Menge anekdotenhafter Geschichten, die wohl absichtlich
etwas ausgeschmückt worden waren. So sollte sich z. B. sein Reichtum von
einem unerwarteten Gewinn in der Lotterie herschreiben, indem ihm ein günstiger
Zufall das große Loos in den Schoß geworfen habe. Wem dieses seltene Glück
zu Teil ward, dem wurde dasselbe um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
im Kurstaat Sachsen auf ganz eigentümliche Weise kundgethan. Es erschienen
nämlich in dem Orte, wo der glückliche Gewinner sein Heimwesen hatte — so
ward uns erzählt —, zwölf berittene Postillone in Gala, um unter Trompeten¬
schall das große Ereignis öffentlich zu verkündigen. Dem Kaufmann Wunderlich,
der keine Ahnung von seinem Glücke hatte, ward diese Ehre zu Teil, als er
eben mit seiner Familie und einigen Freunden bei Tische saß. Als man nun
von fern das Schmettern der Trompeten und das Pferdegetrapp hörte und alle
Tischgäste erstaunt den nicht zu erklärenden Tönen lauschten, erhob sich
Wunderlich und sagte trocken, aber voll Zuversicht: Herr, ich muß ihr sagen,
ich werde das große Loos gewonnen haben!

Ein andermal ward er infolge der Zahlungseinstellung eines Handlungs-
hauses genötigt, die in damaliger Zeit unerhörte Reise nach Hamburg zu machen,
um zu retten, was zu retten war. Dieser Entschluß des hochangesehenen
Mannes erregte allgemeine Bestürzung, denn in der ganzen Stadt lebte kein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/50>, abgerufen am 17.09.2024.